Freitag, Mai 21, 2010

Kein Niveau ist auch Niveau

Kiss, Hard-Rock-Helden der 70er Jahre, gastierten in der Wiener Stadthalle

Worum es Kiss seit ihren Anfangstagen in den 1970er Jahren gegangen ist und auf immer und ewig gehen wird – spätestens bei der letzten Zugabe wissen es alle. In der Wiener Stadthalle lautet der Schlachtruf: "I wanna rock and roll all night. And party every day!"

Weil uns die reale Welt ohnehin dazu zwingt, ständig an oder über etwas nachzudenken: Kiss sind die große Auszeit in einem verkopften Gefüge, sie sind das ewig andauernde Feriencamp in einer Welt der immer nie Erwachsenen. Ihre auf die untere Körperhälfte zielenden und von ebendort kommenden Songs laden auf Platte wie live beim kollektiven Umtrunk mit Bier und den zehn besten Freunden unseres Vertrauens zunächst einmal dazu ein, alles wieder zu vergessen.

Wer den Kopf zu Hause lässt, ist klar im Vorteil. Denn die triebgesteuerten Niederungen des Rock’n’Roll haben anderes im Sinn: Kein Niveau ist auch ein Niveau. Unser Niveau! Und wenn die Band einmal nicht darüber singt, wie es mit dem Rock’n’Roll so ist, so wird dem ewig lockenden Weib mit all seinen Reizen gehuldigt. Dieses macht Gene Simmons auch heute noch ganz ding. Was genau ihn zu Liedern wie "Love Gun" inspiriert hat? Niemand will es wissen.

Damit ist die Band also seit bald vier Dekaden nicht umzubringen. Zum Unikat wurden Kiss aber weniger durch ihre Musik, die – es gibt Wiederholungen – bald an ihre Grenzen stieß. Vor allem in ihrer Erscheinung als flotte Space-Cowboys in Plateau-Schuhen und mit einem Schminkmassaker im Gesicht, wie es selbst Liz Taylor noch nicht gesehen hat, fand sie ihr Alleinstellungsmerkmal. Und auch in puncto Selbstvermarktung, die sich in kaufbaren Artikeln vom Kiss-Kondom bis hin zum Kiss-Sarg niederschlägt, hat sie Standards gesetzt. Während das Vierer-Kollektiv lange Zeit aber vor allem um Nachlassverwaltung bemüht war und eher als Merchandising-Unternehmung mit angeschlossener Restband erschien, veröffentlichten Kiss mit "Sonic Boom" 2009 ihr erstes Album seit elf Jahren. Auch die Gärtner und Stubenmädchen von Gene Simmons haben Familie. Im Falle der Stubenmädchen war Simmons womöglich nicht ganz unbeteiligt – aber egal.

Live sind drei neue Lieder mit dabei: "Modern Day Delilah" als Eröffnungsstück, das vom Stadionrock her kommende "Say Yeah" und das leicht uninspiriert durch die Gegend stampfende "I’m An Animal". Aber auch das ist im Wesentlichen egal.

Was zählt: Zwischen den allesamt doch schon etwas älteren Hits wie "Firehouse", "Deuce", "Detroit Rock City" oder "Shock Me" spielen die Musiker auf den Beleuchtungskörpern an der Hallendecke, schweben über den Köpfen ihrer hiesigen Verehrer hinweg ans hintere Hallenende – und bekommen ihre Soli. Gene Simmons schaut grimmig und speit Blut. Paul Stanley wackelt mit dem Hintern. Auch das ist seit 40 Jahren so, auch das muss so sein.

Es ist ein ehernes Gesetz des Rock’n’Roll: Was einmal geschaffen wurde, muss in Zukunft überboten werden. Das gestaltet sich bei Kiss naturgemäß schwierig, und es wird mit zunehmendem Alter nicht unbedingt leichter, zwischen Stichflammen seinen Dienst zu versehen, die aus dem Höllenschlund einer pyromanisch erweiterten Bühne schlagen. In solchen Momenten hängt Gene Simmons die Zunge aus dem Mund, während Tommy Thayer auf seiner intergalaktischen Sternenreise zum Orion schon wieder Raketen aus seiner Gitarre feuert. Das ist so deppat, man muss es gesehen heben. Der Lohn ist ein Groupie, der seine blanken Brüste schwingt. Jetzt wird auch Paul Stanley noch wucki: "Whooha, huh, wow!" Was soll man sagen? Yeah, yeah, yeah!

(Wiener Zeitung, 22./23./24.5.2010)

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