Donnerstag, Juni 29, 2023

Es ist vorbei – bye-bye!

Abschiede regieren den modernen Popsong seit jeher. Jetzt singen wir unser letztes Lied.

Alles hat ein Ende, nur die Wurst hat zwei: Wird im Popsong Abschied genommen, hat das in erster Linie damit zu tun, dass aus jeder Boy-meets-girl-Geschichte irgendwann einmal eine Boy-loses-girl-Geschichte werden muss. Auch wenn es wahrscheinlich ist, dass man sich zuvor „glücklicherweise nur“ auseinanderliebt und wie der Ich-Erzähler in Elvis Presleys gleichnamigem Song von zu Hause ausziehen und im „Heartbreak Hotel“ einchecken muss, spielt letztlich auch das vor allem aus Hochzeitsfilmen bekannte Motto „Bis dass der Tod uns scheidet“ eine gewisse Rolle.

In seinem „Death Letter Blues“ kann etwa der 1902 in Riverton, Mississippi, geborene Delta-Blues-Musiker Son House ein Lied davon singen: „I got a letter this morning, how do you reckon it read? Say, ,Hurry, hurry! The gal you love is dead.‘“ So oder so: Herzen brechen, Tränen fallen. Zahllose Popsongs künden davon.

Wo es wehtut

Auseinandergehen ist schwer: Kein anderes Genre zielt diesbezüglich wirkmächtiger in die Herzen Dritter hinein und sorgt somit verlässlicher für ein emotionales Entlastungsgerinne. Auch stellvertretend lässt es sich bekanntlich gut leiden. Und man kann damit im Idealfall sogar Therapiekosten sparen. Die Anlage aufgedreht, eine gute Flasche Rotwein geköpft und das Schnäuztüchl bereitgelegt . . . Es sei denn, man geht zu oft dorthin, wo es wirklich wehtut. Sensible Gemüter seien etwa vor dem US-Songwriter Townes Van Zandt gewarnt, der einmal meinte: „Nicht alle meine Lieder sind traurig. Einige von ihnen sind auch hoffnungslos.“

Wie viele Swimmingpools mit Tränen gefüllt werden könnten, weil jemand, sagen wir, „Yesterday“ von den Beatles oder „Back To Black“ von Amy Winehouse gehört hat, ist nicht bekannt. Dass sich die Kunst etwas von der Scheidungsindustrie abschauen kann, ist aber spätestens anzunehmen, seit „Rumours“ von Fleetwood Mac aus dem Jahr 1977 mit seinen mehr als 40 Millionen verkauften Einheiten nicht nur als eines der erfolgreichsten Trennungsalben aller Zeiten gilt.

Mit Trauerflor

This is the end, beautiful friend: Ursprünglich als Break-up-Song angelegt, bald aber allumfassend endzeitlich gedeutet, kommt man im Themenfeld natürlich auch an „The End“ von den Doors nicht vorbei. Der im Jahr 1966 aufgenommene Song fiel in der Coverversion von Nico 1974 und somit drei Jahre nach dem Tod von Jim Morrison noch deutlich beklemmender aus. Das schwärzeste Schwarz aller Zeiten inklusive Trauerflor und keiner Hoffnung auf nichts mehr: „The end of laughter and soft lies / The end of nights we tried to die.“

Glücklicherweise gibt es mit „Closing Time“ von Leonard Cohen und „It’s The End Of The World As We Know It (And I Feel Fine)“ von R.E.M. aber auch Lieder, die es schaffen, selbst der Apokalypse den Schrecken zu nehmen. Hier klingt sie nicht von ungefähr beinahe heiter. Schließlich fallen auch nicht alle Trennungslieder aus Sicht des Verlassenen geplagt-gequält aus, sondern berichten sowohl im Gockel-Rock von Led Zeppelin (mit ihrem „Babe I’m Gonna Leave You“-Cover) als auch im Kuchlradioschlager von Engelbert Humperdinck („Release Me“) aus der Gegenperspektive von der Notwendigkeit loszulassen. Eine konkretere Anleitung dahingehend ist wiederum mit „50 Ways To Leave Your Lover“ von Paul Simon verbrieft.

Was uns auch bereits zur Frage führt, wie man eigentlich abtreten sollte. Mit Whiskeyglas, Pathos und ergriffen von sich selbst wie Frank Sinatra, der „My Way“ singt? Niemals. Rührselig säuselnd wie Céline Dion mit „My Heart Will Go On“? Sicher nicht. Dann schon eher im Zeichen des gepflegten Revenge-Songs mit einem herzlichen „Fuck You“ wie CeeLo Green oder mit Scout Niblett und „Gun“, einem äußerst schlagkräftigen Beitrag zum Thema Vendetta. Peng!

In die Grube

Realbiografisch hat Popliebhabern mittlerweile der letzte aller Abschiede wiederholt ziemlich schwer zugesetzt. Mit dem Tod persönlicher Helden und Heldinnen von Prince über George Michael bis hin zu Tina Turner ging für viele auch die eigene Jugend dahin. Das öffentliche und im Werk bis zur Bahre aufgearbeitete Sterben von David Bowie und Leonard Cohen hat für Überwältigung, Respekt und tief empfundene Trauer gesorgt. Und weil der Nachruf das musikjournalistische Genre der Gegenwart und Zukunft ist, sollte man sich auch selbst daran erinnern, den Bestatter rechtzeitig über die gewünschte Begräbnissetlist zu informieren. Man will auf dem Weg in die Grube ja nicht ausgerechnet mit „Candle In The Wind“ von Elton John zwangsbeglückt werden.

„Fading / Falling / Melting / Sinking / Disappear“: Aktuell gehört übrigens „Vanishing“ von Circuit des Yeux zu den besten Songs, die jemals über das Ende, den Abschied und das Verschwinden geschrieben wurden. Verschwinden ist, das Wort sagt es schon, ein Prozess, der langsam erfolgt – zersetzend, qualvoll und hinterhältig. Ein Song über die Auslöschung einer ganzen Tageszeitungsredaktion muss noch geschrieben werden. Aber erinnern wir uns ganz am Ende auch an Bob Dylan in seiner christlichen Phase. „When you’re sad and when you’re lonely / And you haven’t got a friend / Just remember that death is not the end.“ In diesem Sinne!

(Wiener Zeitung, 30.6.2023)

Ende mit ohne Serviette

Ein Selbstporträt zum Abschluss, oder: Wer oder was ich im „extra“ der „Wiener Zeitung“ auch war.

Hallo! Mein Name ist Andreas Rauschal. Sie kennen mich vielleicht noch aus Artikeln wie „Tanz den HC Strache!“, „David Hasselhoff live: Ein Auto, eine Boje, ein Mann“ oder „Dieter Bohlen in Wien: Gar nicht so mega“, dem Text mit meinem persönlichen Klick-Rekord, den jedes jetzt angeblich für mehr Klicks sorgende Onlinemedium definitiv nicht übertreffen wird.

Bevor ich in Zukunft nicht vorhabe, mich wie der abgehalfterte B-Movie-Schauspieler Troy McClure aus den „Simpsons“, von dem ich mir den Einstieg in diesen Text ausgeborgt habe, als Testimonial mit viel Vergangenheit und keiner Zukunft im Privat- oder gar als Shopping-Animateur im Verkaufsfernsehen zu verdingen („Bestellen Sie die Antisept-Teflonpfanne jetzt und erhalten Sie diese hochwertige Edelstahl-Nudelzange von Eros Amore NUR MEHR HEUTE gratis dazu!“), möchte ich Ihnen noch schnell ein kleines Geheimnis verraten.

Ja, es stimmt. Sie haben mich im „extra“ der „Wiener Zeitung“ vielleicht als Kasperl vom Dienst auf der Glossenseite sowie im Feuilleton als Musikkritiker kennengelernt, der furchtlos dorthin ging, wo niemand sonst je freiwillig hingehen wollte (siehe oben). Vielleicht haben Sie mich zwischen den Zeilen auch dort erkannt, wo ich Texte aus fremder Feder eingerichtet, feingeschliffen, herausgeputzt oder verschlimmbessert habe (meine Schuld, meine Schuld, meine große Schuld!). Womöglich ist Ihr Blick im Impressum aber auch einfach nur auf meinen Namen gefallen und Sie haben sich dabei gedacht, was Sie sich in Zukunft erst recht denken werden: „Ah! Nie gehört.“

In meiner intern zentralsten Rolle bin ich Ihnen aber auf jeden Fall unbekannt. Dafür werde ich meiner „extra“-Führungsfachkraft und allfälligen mit akutem Kuchenhunger bei uns im Büro einfallenden Kolleginnen und Kollegen vor allem in einer Funktion fehlen. Immerhin habe ich mich in unserer Abteilung nicht eigens zum Serviettenbeauftragten hochgearbeitet, um auch noch als solcher in Vergessenheit zu geraten.

Die Serviette, die in Zukunft bei jeder Pause fehlen wird, das bin jetzt ich. Die Lücke, die mich ersetzt, ist ein Stoffbehelf, der nicht mehr existiert – woran man die Notwendigkeit alles Haptischen dann ja vielleicht doch noch erkennen könnte. Im Gegensatz zu Nichtigkeiten wie, sagen wir, einer Tageszeitung lassen sich die wirklich wesentlichen Dinge ja nicht so einfach digital transformieren.

Erst wenn die letzte Serviette . . . werdet ihr merken . . .  dass man … Aber entschuldigen Sie mich jetzt! Gerade spazieren die Kollegen mit etwas herein, das mir nach Guglhupf ausschaut.

(Wiener Zeitung, extra spezial, 30.6.2023)

Mittwoch, Juni 28, 2023

Seelenmesse im Holz

Die britische Songwriterin PJ Harvey ist wieder da. Kommende Woche erscheint ihr neues Album.

„So look behind and look before / At life a-knocking at death’s door / So look before and look behind / At life and death all intertwined“: Ein zentrales Thema des Albums wird bereits zum Auftakt mit dem von PJ Harvey im Kirchenlied- und Trauermarschduktus gegebenen Song „Prayer At The Gate“ vorweggenommen. Immerhin ist auf dem Cover ihres kommende Woche erscheinenden neuen und mittlerweile zehnten Studioalbums „I Inside The Old Year Dying“ (Partisan Records/Pias/Rough Trade) nicht von ungefähr ein totes Stück Holz abgebildet. Der karge Ast auf leichentuchweißem Hintergrund steht nicht nur für die Schutzbedürftigkeit von Mutter Natur und den für ein im Hochsommer veröffentlichtes Album eher überraschend ins Visier genommenen Übergang der Jahreszeiten in die Herbst-Winter-Saison. Er steht sinnbildlich auch für den langsamen Abschied – und das Ende von allem.

An der Schwelle

Nach der Tour zu ihrem Vorgängeralbum „The Hope Six Demolition Project“ von 2016 ist die heute 53-jährige Britin in ein existenzielles Loch gefallen. Das ewige Hamsterrad aus Albumproduktion und Ochsentour hat PJ Harvey müde gemacht. Nach knapp dreißig Dienstjahren kam der Sängerin und Songwriterin zwischenzeitlich sogar die Idee, sich beruflich neu zu orientieren. Man kennt das – im Regelfall aber als aufgedrängtes Gedankenspiel, das an die Substanz geht und den Schlaf raubt. Es hieß einatmen und ausatmen. Nachdenken und sich sammeln. Und schließlich weitermachen: Am Ende ist PJ Harvey dann doch wieder in einem Londoner Studio gelandet, um mit Unterstützung ihrer alten Weggefährten und kreativen Soulbrothers John Parish und Mark Ellis alias Flood zu machen, was sie am besten kann.

Nach ihrer im Jahr 2011 mit dem Album „Let England Shake“ eingeläuteten politischen Phase regiert auf „I Inside The Old Year Dying“ nun wieder die Innenschau. Wobei die zwölf in knapp 40 Spielminuten gereichten Songs vor allem das Dazwischen fokussieren: Neben den erwähnten Jahreszeiten und der Schwelle zwischen Leben und Tod geht es nicht zuletzt um den Graubereich zwischen Bewusstsein und Unterbewusstsein – und mit Erinnerungssplittern dorthin, wo man aus Erwachsenenperspektive erneut an die Kindheit denkt. Die liegt jetzt auch schon wieder ein wenig zurück und verschwimmt mitunter wie ein etwas seltsamer Traum vor dem geistigen Auge. Man weiß es zwar noch ganz genau – aber ob es auch wirklich so war?

Mut zur Lücke

Die Autoharp als zentrales Instrument von „Let England Shake“ und die in den Vordergrund gestellten Bläser von „The Hope Six Demolition Project“ bleiben diesmal auf dem Dachboden verstaut. Den messerscharfen Blues von seinerzeit hat PJ Harvey gegen einen verästelten Folkrock mit feinen Zweigen getauscht. Nach dreiwöchiger Schreibarbeit wurden die Stücke schließlich im Studio improvisiert und überwiegend live eingespielt. Nicht immer fallen die Ergebnisse dabei so atmosphärisch dicht aus wie in Miniaturen wie dem keine drei Minuten dauernden „August“, zu dem man am besten nichts macht außer sich an einem heißen Sommertag in die Wiese zu legen und den Wolken beim Vorbeiziehen zuzusehen.

Oft hört man den Songs das Dazwischen auch in ihrem Mut zur Lücke an. Spröde und teils spartanisch angelegt, fallen sie nicht unbedingt mit der Tür ins Haus. Auf Standout-Tracks und Gänsehautmomente, die sich zwischendurch natürlich trotzdem einstellen, scheint PJ Harvey diesmal nicht aus gewesen zu sein. Stattdessen funktioniert das Album vor allem als in sich geschlossene Einheit.

Das Ende

„March wull sarch, Eäpril wull try / Mäy u’ll tell if you’ll live or die“: Als Schwesternstück zu ihrem im Vorjahr vorgelegten Versroman „Orlam“ im Dialekt ihrer südwestenglischen Heimatregion Dorset geschrieben und eingesungen, übersetzt die Musik dabei, was man sich an den Texten bisweilen erarbeiten muss. An biblischen Motiven jedenfalls herrscht kein Mangel, während es über „Lwonesome Tonight“ (sic!) als Gottsuche mit Elvis oder „All Souls“ als Seelenmesse im Holz schließlich in die zweite Hälfte des Albums geht, in der PJ Harvey doch noch zu alter Stärke aufläuft. Erwähnt sei etwa das knochentrockene „A Child’s Question, July“ im Duett mit John Parish oder die händeringende Folk-Litanei „I Inside The Old I Dying“, bei der nicht von ungefähr das letzte Geläut vom Kirchturm her schallt. PJ Harvey erwartet den Erlöser – und geht zum Schluss als Geist unter Geistern um.

Über „A Noiseless Noise“ kreisen dann schon die Fliegen. Die Absenz bricht sich Bahn, ein Leerraum entsteht. Es stinkt zum Himmel: „Go home now love, leave your wandering“: Das ist der letzte Satz des Albums. Und dies ist das Ende.

(Wiener Zeitung, 29.6.2023)

Donnerstag, Juni 22, 2023

Abrissparty mit Steppdecke

Die deutsche Band Deichkind begann ihre „Neues vom Dauerzustand Tour“ live in der Wiener Stadthalle.

Wenn du glaubst, es geht nicht mehr – und das ist jetzt in erster Linie quantitativ gemeint –, kommt von irgendwo ein überdimensioniertes Bierfass daher. In dem hat sich die deutsche Band Deichkind verschanzt und lässt sich darin einmal quer durch die Wiener Stadthalle rollen. Prost! Lange, nachdem das Konzert zum Auftakt der „Neues vom Dauerzustand Tour“ am Mittwoch vor 10.000 Fans mit „99 Bierkanister“ eröffnet wurde und noch bevor zur Umdichtung der „Internationalen“ im Zeichen des Trinkspruchs („Hört ihr die Signale? Die Saufsignale?“) Freibier durch Schläuche an das Publikum ausgeschenkt wird, befindet man sich schließlich auf dem Höhepunkt eines an quantitativen Höhepunkten reichhaltigen Abends.

Wummern und bummern

Mit Deichkind als Schattentänzern hinter dem Bühnenvorhang und später wie ein bereits in den frühen 1920er Jahren von der russischen Künstlerin Marie Vassilieff erfundenes Tanzperformancekollektiv als Lumpenproletariat mit Leuchttetraeder werden live in Wien jedenfalls keine Gefangenen gemacht. Tatsächlich geht die Stimmung bereits bei den ersten Songs durch die Decke wie sonst nur auf einer durchschnittlichen Maturareise beim Sprung in den Pool, der eigens für die jungen Gäste mit Sangria befüllt wurde.

Leider geil: Mit dem mächtig wummernden und bummernden „So ne’ Musik“ als Türöffner („Die Show kann jetzt beginnen, und alle nur so yeah!“) und dem doppelbödigen „Geradeaus“ über das Problem mit dem Vorankommen im Leben, für das Deichkind die sehr schöne Zeile „Wer nicht walkt, der nicht gewinnt“ eingefallen ist, wird spätestens bei Song Nummer vier auch inszenatorisch voll auf die Kacke gehaut – wie man dazu in Berlin sagen würde. Immerhin beobachtet man bei „Auch im Bentley wird geweint“ MC Kryptic Joe dabei, wie er auf einer überlebensgroßen Luxushandtasche Rodeo reitet und tüchtig mit Goldkette und dicker Hose aufgerüstet den deutschen Gangstarap fickt: „Ich hab’ Klopapier von Gucci / Schneid’ Delfine in mein Sushi.“ Das ist würdig und recht.

Weil heute alles schnell gehen muss, ist man mit einer kurzen Grundsatzrede zugunsten der Letzten Generation dann aber schon wieder anderswo. Deichkind widmen sich dem Thema Nachhaltigkeit und unserem Heimatplaneten, der bekanntlich am Abgrund steht: „Alle Straßen sind geteert / Gelsenkirchen liegt am Meer / In Grönland wachsen Palmen / Alle Groschen sind gefallen.“ Aber: „In der Natur / Da verknackst du dir den Fuß / In der Natur / Da versagt dein Survivalbuch / In der Natur / Da hilft keiner, wenn du rufst / Du hast lange nicht geduscht / Und das hier so nicht gebucht.“ Der moderne Großstadtmensch mag sich zwar grundsätzlich mit Mutter Erde solidarisch zeigen – weit weg vom Beton als Exilant ohne Smartphone in der Hand ist er aber auch ganz schnell dem Verderben ausgesetzt. Mit „Die Welt ist fertig“ und „In der Natur“ eröffnen Deichkind die Abrissparty für eine aus den Fugen geratene Welt, der sich auch das aktuelle Album „Neues vom Dauerzustand“ verschrieben hat. Bereits auf dessen Cover sieht man eine kerzengerade Straßenlaterne in der buchstäblich verrückten Landschaft stehen – oder ist es doch umgekehrt?

Kippend im Späti

Themen wie Schieflagen betrachtet die im Kern aus den MCs Kryptik Joe und Porky sowie Zeremonienmeister La Perla alias DJ Phono bestehende Band, die im Verlauf des Abends noch um eine ganze B-Mannschaft an Ersatz-Deichkindern anwachsen wird, aber auch aus einer ganz anderen Perspektive. Schließlich steht Kryptik Joe irgendwann nicht von ungefähr mit einem gigantischen Rucksack auf der Bühne, der auf ihm lasten dürfte wie das echte Leben auf uns. Kipppunkte gehen bei Deichkind bekanntlich auch auf Druckbetankung im Späti sowie „Richtig gutes Zeug“ als die an dieser Stelle besungene chemische Unterlage zurück. Die playback abgerufene Elektronik beginnt jetzt, wie Hexenwerk zu blubbern – und Trockeneisnebel steigt auf. Dazu trägt Kryptic Joe ausgerechnet am bisher heißesten Tag des Jahres seine alte Daunensteppdecke und versteckt die Pupillen hinter einer gletschertauglich verdunkelten Bergsteigerbrille. Nur dass es in diesem Zustand ohnehin keinen Zentimeter vorwärts geht – von bergauf ganz zu schweigen. „Ich bin so gaga im Roof / Mir hängt die Birne im Sud.“ Aber das wird schon wieder.

Deichkind pendeln schon immer zwischen den Polen – und loten dabei mit voller Absicht Extreme wie Diskurs und Ballermann sowie das Grenzland dazwischen aus. Nach kritischen Liedern über das Erwerbsarbeitsmilieu wie „Arbeit nervt“ und „Bück dich hoch“ steht live also etwa auch eine Rollschuheinlage mit Stringtanga oder ein weiteres Bad in der Menge mit dem Schlauchboot auf dem Programm. Am unvermeidlichen Ende nach zwei Stunden mit „Remmidemmi (Yippie Yippie Yeah)“ sieht die Bühne dann ohnehin aus wie auf einem sehr schrägen Trip – oder nach einem völlig eskalierten Kindergeburtstag. Sogar ein aufgeblasenes Scheißhaufen-Emoji ist diesmal dabei und winkt uns zum Abschied. Richtig gutes Zeug, aber auch: Vorsicht mit den Drogen, Kinder!

(Wiener Zeitung, 23.6.2023)

Samstag, Juni 17, 2023

Räume und Träume, Schäume

Der britische Musiker Archy Marshall alias King Krule und sein neues Album „Space Heavy“.

Millionen von Pendlern kennen das vermutlich. Wenn man frühmorgens im Zug sitzt und dort noch nicht arbeiten will, kommt man entweder ins Spekulieren. Oder man macht für ein schnelles Nickerchen noch einmal die Augen zu, wobei erst recht die Gefahr besteht, dass einem die Gedanken nur so um die Ohren fliegen.

Das ist zwischen Mödling und Meidling nicht anders als zwischen Liverpool und London. Dort war zur Entstehungszeit seines jetzt vorliegenden neuen Albums „Space Heavy“ (XL/Beggars Group) Archy Marshall alias King Krule unterwegs. Bei dem Mann weiß man grundsätzlich ja nie so genau, ob er gerade vor sich hindämmert oder doch in einer Art Wachzustand Musik macht, die klingt, als würde ein nasser Sack in Zeitlupe umfallen, um danach erschöpft in den Seilen zu hängen.

Unendliche Weiten

Du liebe Güte! Jetzt bin ich schon wieder eingeschlafen und habe meinen Ausstieg in Meidling verpasst. Was uns aber auch schon zu den diversen Aspekten des Raums als solchem bringt, die King Krule mit seinen 15 neuesten Songs und Songskizzen mitunter verhandelt. Ob der Wiener Hauptbahnhof überhaupt ein Raum oder doch nur ein Zustand ist, wäre etwa zu klären. King Krule selbst geht gleich zum Auftakt aber etwas ganz anderes durch den Kopf. Und er widerlegt dabei Aristoteles und dessen Überlegungen zur räumlichen Begrenztheit mit einem Synthesizer, der lieber bei „Stark Trek“ vorbeischaut: Der Weltraum – unendliche Weiten!

Diese wurden von King Krule bereits auf seinem im Jahr 2013 erschienenen Debütalbum „6 Feet Beneath The Moon“ durchforstet. Sie bekamen es dabei allerdings auch mit der Enge im Betongrau des sozialen Brennpunkts zu tun, in dem Träume viel zu oft nichts als Schäume sind.

Bekannt wurde der heute 28-Jährige als der Mann, der den BBC-Sound-of-Poll des Jahrgangs 2013 auf Kosten der kalifornischen Haim-Schwestern dann doch nicht gewann. Dafür erwies sich der Popentwurf des aus London gebürtigen Sängers, Songwriters, Gitarristen und Produzenten im Weiteren als ungleich origineller. Immerhin wurden hier recht gegensätzliche Elemente aus Jazz, Post-Punk, Hip-Hop und Heimelektronik vereint und zwischen Ruhepuls und großem Septakkord als kleine Nachtmusik angerichtet.

„I’m waiting for the night to fall, when everything is bearable“: Frei nach Depeche Mode fand und findet auch King Krule seine persönliche Komfortzone in jenen Stunden, in denen das Licht höchstens aus künstlichen Quellen stammt und bei einem Blick durch das Fenster der Bar hinaus mit dem Blinken der großstädtischen Hauptverkehrsadern verschwimmt.

Nachtfahrt mit Saxofon

Auf der Suche nach innerem Frieden gleiten ausgehend von der wahlweise clean oder mit Flangereffekt gespielten Gitarre jetzt auch neue Stücke wie das zärtlich gestimmte „Flimsier“ mit seinem verschleppten Beserlschlagzeug oder das verwaschene „Seagirl“ als vertonter Aktmalkurs mit Meerjungfrau an uns vorbei. Manchmal, wie im spröde tänzelnden „Pink Shell“ zum Thema Beziehungsstress, bei „Hamburgerphobia“ und seinem vertonten inneren Kabelbrand oder im Titelstück „Space Heavy“ mit King Krules bärbeißig erhobener Stimme, muss die Dämonenzähmung aber auch kurz einmal für ein reinigendes Donnerwetter pausieren. Zwischen der einen oder anderen Nachtfahrt mit Saxofon fällt die geballte Ereignislosigkeit von Songs wie „If Only It Was Warmth“ als Gegenstück zur allgegenwärtigen Reizüberflutung im Wechselspiel dafür bald aber umso nachhaltiger aus.

Dass der Ringkampf der Pole manchmal auch in ein und derselben Nummer über die Bühne geht, ist wiederum am Beispiel der Singleauskopplung „Seaforth“ zu überprüfen. Die bleibt im Tonfall friedlich, während King Krule mit seiner vierjährigen Tochter am Strand sitzt und dem brennenden Heimatplaneten dabei zusieht, wie er in den Abgrund stürzt.

Danach zieht das rauschende Meer mit seinen Wellen den Sandplatz ab. Der verschwimmende Gesang der Möwen klingt dazu wie blanker Hohn im Ohr. Hallo, Sie, guten Morgen! Aussteigen, bitte. Endstation!

(Wiener Zeitung, 16./17.6.2023)

Donnerstag, Juni 15, 2023

Leben, Tod und Auferstehung

Josh Homme und seine Queens Of The Stone Age und ihr schnörkelloses neues Album „In Times New Roman . . .“.

Gute Stimmung im eigentlichen Sinn kommt gleich eingangs eher keine auf: „I don’t give up, I give in / There ain’t nothing to win / (. . . ) We’re all caught in the middle and useless.“ Und sie wird auch im Anschluss nicht überhandnehmen, bevor Josh Homme eine Dreiviertelstunde später im Finale mit dem Song „Straight Jacket Fitting“ aus Boomersicht das langsame, aber unausweichliche Ende seiner kleinen, heilen, steilen Welt beklagt.

Passenderweise geht im Musikvideo zum Song „Carnavoyeur“ der Gevatter Tod mit der Sense spazieren. Ein Ensemble aus Skeletten setzt dazu einen Schwanengesang choreografisch in Szene. Die bei den Queens Of The Stone Age ohnehin immer allgegenwärtigen Totenschädel laden zum Leichenschmaus. Bald schon fällt der letzte Vorhang. Was danach kommt, weiß der Teufel.

Launige Zombie-Party

Ausgerechnet die als neunter von zehn Songs gereichte Vorabsingle mit dem Titel „Emotion Sickness“ schafft es dann aber, der Endzeitstimmung doch noch ihr Gutes abzutrotzen. Als Ausreißer auf „In Times New Roman . . .“ (Matador), dem am Freitag erscheinenden neuen und mittlerweile achten Album der 1996 gegründeten US-Band, wird aller Missmut dabei unter Zuhilfenahme der guten alten Text-Ton-Schere in einen luftigen Refrain überführt, bei dem die Sonne nicht nur wieder aufgeht, sondern bereits mitten am Himmel steht – obwohl Josh Homme da über ein Baby singt, das ihm abgepascht ist.

Ein erheblicher Teil des auf Themen wie Verlust, Betrug und Tod fokussierten Albums könnte also realbiografisch beeinflusst sein. Immerhin befindet sich der heute 50-Jährige nicht nur inmitten eines unschönen (Sorgerechts-)Streits mit seiner Ex-Frau Brody Dalle. Auch erzählte der seit Komplikationen im Rahmen einer Knie-Operation im Jahr 2010 von gesundheitlichen Problemen geschüttelte Sänger, Gitarrist und Songwriter erst dieser Tage von einer angeblich bereits überstandenen und nicht näher spezifizierten Krebserkrankung im Vorjahr. Neben den Auswirkungen der Pandemie auf dem ersten Album seiner Band seit dem Jahr 2017 in Songs wie der launigen Zombie-Party von „What The Peephole Say“ mit Josh Homme als frisch gebackenem Freund des sich durch das Album ziehenden Wortspiels („I don’t care what the people know / The world is gonna end in a month or so“) dürften Zeilen wie „We live, we die, we fail, we rise“ also ganz konkret auch der eigenen körperlichen Verfasstheit – und dem Tod alter Freunde und Weggefährten wie Mark Lanegan und Taylor Hawkins – geschuldet sein.

Im Negativraum

Nachdem Josh Homme als Keith Richards seiner Generation über lange Zeit auch selbst massiven Raubbau am eigenen Körper betrieben hat, wie nicht zuletzt sein guter alter „Feel Good Hit Of The Summer“ („Nicotine, Valium, Vicodin, Marijuana, Ecstasy and Alcohol – C-c-c-cocaine!“) untermauerte, ist derzeit angeblich aber eine Phase der Läuterung angebrochen. Zumindest eigenen Aussagen zufolge hat sich der Mann zuletzt ein Beispiel an Iggy Pop, mit dem er 2016 auf dem gemeinsamen Album „Post Pop Depression“ kollaborierte, und dessen Überlebensweg in die Substanzlosigkeit genommen.

Davon abgesehen markiert „In Times New Roman . . .“ nach dem bereits erstaunlich nachdenklichen QOTSA-Album „...Like Clockwork“ (2013) mit seinem überraschenden Gastauftritt von Sir Elton John und dem zuletzt von Mark Ronson in Richtung Dancefloor gebrachten „Villains“ (2017) jetzt jedenfalls eine gewisse Rückkehr. Von der Band selbst etwa auch in Rick Rubins Shangri-La-Studios in Malibu produziert, kündet bereits der Dreifachschlag aus „Obscenery“, „Paper Machete“ und „Negative Space“ zu Beginn davon.

Wir hören eine Wiederbesinnung auf den schnörkellosen, direkten und kraftvollen Protosound von seinerzeit, der es allerdings auch mit sich bringt, dass einem zahlreiche der nach wie vor von unwiderstehlichen Stop-and-go-Grooves geprägten Songs doch recht vertraut vorkommen. Gegen das heute fehlende Hitfeuerwerk wiederum und die von Josh Homme mit einem weiteren Wortspiel besungene „Atmosfear“ kann man sich notfalls ja auch mit „Emotion Sickness“ in Dauerschleife helfen. Hier kommt die Sonne! 

(Wiener Zeitung, 16.6.2023) 

Samstag, Juni 03, 2023

Das Licht geht aus

Auf der Suche nach letzten Worten – oder doch nicht – und: (m)ein Abschied als Glossist an dieser Stelle. Kolumne im "extra".

„Mehr Licht!“ – eigentlich wollte ich Ihnen ja nicht ausgerechnet mit Goethe kommen, allerdings bieten sich die berühmten letzten Worte des Dichterfürsten aus naheliegenden Gründen auch aus meiner persönlichen Perspektive an. Immerhin handelt es sich hierbei um einen Abschied: Das ist nach beinahe 18 Jahren ohne Pause mein letzter Beitrag für die „Wiener Zeitung“ an dieser Stelle.

Frei nach dem US-Rapper Ice-T wiederum habe ich derzeit nämlich 99 Probleme, glorreiche letzte Worte sind aber definitiv keines davon. Außerdem fehlt mir gerade auch ganz einfach die Zeit, mir selbst noch einen Sinnspruch auszudenken, mit dem ich diese Bühne verlasse. Aus fremder „Feder“ wiederum hätte sich vielleicht noch James Dean angeboten, dessen letzter Satz unmittelbar vor seinem Unfalltod „That guy’s gotta stop“ lautete. Nachtrag: „He’ll see us!“

Dafür habe ich in letzter Zeit zu meiner eigenen Stimmungsaufhellung und im Optimalfall auch zur Unterhaltung meiner Follower auf der bevorzugten Social-Media-Plattform meines Misstrauens bereits für den Kasperl im zweiten Bildungsweg geprobt und etwa an der Wortspielfront Postings wie „Ich bin jeder Art von Pasta farfallen“, „Herr Ober, dieser Salat ist mir zu manieriert“ oder „Wer Obers hasst, ist nichtsahnend“ abgesondert. Womit Sie jetzt auch meinen zweiten von insgesamt drei aktuellen Stimmungsaufhellern kennen: Sehr wahrscheinlich finden Sie mich, wenn ich mir nicht gerade schreibend einen Reim auf die Welt mache oder auf dem Fahrrad sitze, in der Küche zwischen Pfannen und Töpfen wieder. Aber auch dort gibt es traurige Tage. Ich koche dann etwa das schwärzeste Schwarz aller Zeiten in Form des Sepia-Risottos nach, mit dem Blixa Bargeld einst in den 1990er Jahren bei Alfred Biolek, selig, im Fernsehen zu sehen war.

Mitunter kommt bei meinen Postings aber auch der eine oder andere ernsthaftere Sinnspruch heraus. Sollte ich mich demnächst also anders als unlängst angekündigt doch nicht wie der Ich-Erzähler in Wilhelm Genazinos Roman „Die Liebesblödigkeit“ als freischaffender Apokalyptiker verdingen, könnte ich noch immer auf den freien Aphoristiker umschulen: „Der größte Luxus, den ich mir leiste, sind die Kommentare, die ich mir spare.“ Damit habe ich zwar ursprünglich die Lust daran gemeint, auf all die Dummheit da draußen nur mehr mit Ignoranz zu reagieren. Weil ich an dieser Stelle verstummen muss, werde ich anderswo jetzt aber erst recht nicht schweigen.

Gerne jedenfalls hätte ich Sie in dieser Ecke unserer jetzt also in die Geschichtsbücher eingehenden Tageszeitung weiterhin unterhalten – oder zumindest meinen Abschlussbeitrag etwas heller gestaltet. Fürs Erste und Letzte schließe ich hier aber stimmungstechnisch adäquat – mit dem guten alten Laternenlied: „Das Licht geht aus, wir gehen nach Haus, rabimmel, rabammel, rabumm.“ 

(Wiener Zeitung, 3./4.6.2023) 

Freitag, Juni 02, 2023

Der letzte Mann am Dancefloor

Jake Shears, Kopf der Scissor Sisters, kehrt mit seinem zweiten Soloalbum zurück in die Disco.

Ein Song des Albums heißt „Devil Came Down The Dance Floor“. Darin hat Jake Shears eine schicksalhafte Begegnung mit dem Gottseibeiuns höchstpersönlich. Der wohnt im Normalfall in der Gartenhütte von Keith Richards und darf höchstens in der Rauchpause kurz einmal ins Haus hinein. Oder er verschanzt sich in einer Schwulendisco in Brooklyn zwischen Dancefloor, Darkroom oder, notdürftig mit einem zu weit geschnittenen Trenchcoat verkleidet, in der öffentlichen Herrentoilette neben dem Notausgang. Crazy Ort! Geile Leute.

Ein Matrose auf Landgang

Dort ist auch Jake Shears zu Hause. Gute Güte, es ist wirklich verdammt schwer, sich diesen Mann nicht in einer waffenscheinpflichten Lack-, Leder- und Latex-Montur als New Yorker City Cop mit Freddie-Mercury-Gedenk-Schnauzbart vorzustellen, der sich nach Dienstschluss als Matrose auf Landgang verkleidet – oder die Dragqueen in Strapsen auf einem Fastnacktgschnas in der „Hetenhölle“ in Sankt Veit an der Glan zum Besten gibt. Die hüpft um Mitternacht aus einer Schwarzwälder Kirschtorte heraus, die jemand als Trojanisches Pferd mit Sahnebaiser mitgebracht hat. ÜBER-RASCH-UNG, ihr Schlampen!

Jetzt aber, endlich – endlich ist Tanzen angesagt. Tanzen ist nicht nur die beste Medizin, wenn es darum geht, sich die Lebensfreude zurück in den Alltag zu holen. Tanzen bietet auch bessere Erfolgsaussichten als Tinder und hilft dabei, nicht endgültig fett zu werden, wenn man sich gerade den sechsten Gin Tonic an der Budl bestellt. Gin Tonic ist neben Tanzen übrigens die zweitbeste Medizin. Aber was wollte ich gerade eigentlich sagen?

Ach ja. Jake Shears wurde ursprünglich als Sänger, Kopf und coole Socke der Scissor Sisters bekannt. Die weder jugendfreie noch heteronormative und entsprechend nach einer lesbischen Sexpraktik benannte Glamourband im Fachbereich Discodancing landete ab ihrem 2004 erschienenen selbstbetitelten Debütalbum eine Handvoll Hits, an die man sich auch noch heute erinnern könnte. Mit dem gemeinsam mit Elton John als persönlichem Haus- und Hofheiligen der Band geschriebenen „I Don’t Feel Like Dancin’“ als Visitenkarte wurde zwischen Disco, Pop und etwas Glamrock in erster Linie einmal hedonistisch auf die Pauke gehaut. Der Rest war dann ganz einfach eine etwas längere Party.

Dunkle Sonnenbrillen

Heiliger George Michael, bitte für uns: Nach der von den Scissor Sisters schließlich ab dem Jahr 2012 eingelegten Pause auf unbestimmte Zeit konnte man Jake Shears’ Solodebüt „Jake Shears“ (2018) als dezenten Abnabelungsversuch hören. Es folgten sein Broadwaydebüt, die Autobiografie „Boys Keep Swinging“ sowie zuletzt 2022 das mit James Graham und abermals mit Elton John geschriebene Musical „Tammy Faye“. Mit den zwölf Songs seines nun erstmals bei Mute Records veröffentlichten zweiten Soloalbums „Last Man Dancing“ kehrt der heute 44-Jährige nun aber im großen Stil in die Disco zurück. Selbstverständlich wird zur Feier des Tages auch die gute alte Kuhglocke wieder ausgepackt.

Neben Gastauftritten von Jane Fonda im Rahmen der akut Song-Contest-tauglichen Sci-Fi-Synthiepop-Hymne „Radio Eyes“ mit der aus Gründen wirklich äußerst bedrohlichen Zeile „You will be rebuilt and transformed“ sowie von Iggy Pop zum Abschluss im eklektischen „Diamonds Don’t Burn“ steht mit „Voices“ ein früher Höhepunkt im Duett mit Kylie Minogue auf dem Programm. Mitunter schickt sich Jake Shears dabei tatsächlich an, die Lücke zu füllen, die George Michael nach seinem zu frühen Tod hinterlassen hat. Und man ist deshalb auch eher bereit, ihm den einen oder anderen Schema-F-Song der Marke Disco nach Vorschrift oder die etwas billige „Dancing Queen“-Adaption zu verzeihen, als die das Titelstück des Albums daherkommt.

Nach den Gute-Laune-Songs der ersten Hälfte geht es in Hälfte zwei im fließenden Übergang eines DJ-Sets übrigens endgültig in Richtung Darkroom. Zu im Grenzland von Tech-House und Italo-Disco aus dem Orden des Giorgio Moroder pluckernden und tuckernden Stücken wie „8 Ball“ oder „Mess Of Me“ sind natürlich trotzdem dunkle Sonnenbrillen angesagt. Man könnte davor noch von der Discokugel oder den möglicherweise ganz falschen Nachtgefährten geblendet werden: „I am burning / You are the flame / I break a cold sweat / Forget my name.“

Musikalisch hat Jake Shears zu diesem Zeitpunkt aber ohnehin schon allen Kummer und alle Sorgen vertrieben. Gute Sache, dringend nötig. Hot stuff!

(Wiener Zeitung, 3./4.6.2023)