Der britische Musiker Archy Marshall alias King Krule und sein neues Album „Space Heavy“.
Millionen von Pendlern kennen das vermutlich. Wenn man frühmorgens im Zug sitzt und dort noch nicht arbeiten will, kommt man entweder ins Spekulieren. Oder man macht für ein schnelles Nickerchen noch einmal die Augen zu, wobei erst recht die Gefahr besteht, dass einem die Gedanken nur so um die Ohren fliegen.
Das ist zwischen Mödling und Meidling nicht anders als zwischen Liverpool und London. Dort war zur Entstehungszeit seines jetzt vorliegenden neuen Albums „Space Heavy“ (XL/Beggars Group) Archy Marshall alias King Krule unterwegs. Bei dem Mann weiß man grundsätzlich ja nie so genau, ob er gerade vor sich hindämmert oder doch in einer Art Wachzustand Musik macht, die klingt, als würde ein nasser Sack in Zeitlupe umfallen, um danach erschöpft in den Seilen zu hängen.
Unendliche Weiten
Du liebe Güte! Jetzt bin ich schon wieder eingeschlafen und habe meinen Ausstieg in Meidling verpasst. Was uns aber auch schon zu den diversen Aspekten des Raums als solchem bringt, die King Krule mit seinen 15 neuesten Songs und Songskizzen mitunter verhandelt. Ob der Wiener Hauptbahnhof überhaupt ein Raum oder doch nur ein Zustand ist, wäre etwa zu klären. King Krule selbst geht gleich zum Auftakt aber etwas ganz anderes durch den Kopf. Und er widerlegt dabei Aristoteles und dessen Überlegungen zur räumlichen Begrenztheit mit einem Synthesizer, der lieber bei „Stark Trek“ vorbeischaut: Der Weltraum – unendliche Weiten!
Diese wurden von King Krule bereits auf seinem im Jahr 2013 erschienenen Debütalbum „6 Feet Beneath The Moon“ durchforstet. Sie bekamen es dabei allerdings auch mit der Enge im Betongrau des sozialen Brennpunkts zu tun, in dem Träume viel zu oft nichts als Schäume sind.
Bekannt wurde der heute 28-Jährige als der Mann, der den BBC-Sound-of-Poll des Jahrgangs 2013 auf Kosten der kalifornischen Haim-Schwestern dann doch nicht gewann. Dafür erwies sich der Popentwurf des aus London gebürtigen Sängers, Songwriters, Gitarristen und Produzenten im Weiteren als ungleich origineller. Immerhin wurden hier recht gegensätzliche Elemente aus Jazz, Post-Punk, Hip-Hop und Heimelektronik vereint und zwischen Ruhepuls und großem Septakkord als kleine Nachtmusik angerichtet.
„I’m waiting for the night to fall, when everything is bearable“: Frei nach Depeche Mode fand und findet auch King Krule seine persönliche Komfortzone in jenen Stunden, in denen das Licht höchstens aus künstlichen Quellen stammt und bei einem Blick durch das Fenster der Bar hinaus mit dem Blinken der großstädtischen Hauptverkehrsadern verschwimmt.
Nachtfahrt mit Saxofon
Auf der Suche nach innerem Frieden gleiten ausgehend von der wahlweise clean oder mit Flangereffekt gespielten Gitarre jetzt auch neue Stücke wie das zärtlich gestimmte „Flimsier“ mit seinem verschleppten Beserlschlagzeug oder das verwaschene „Seagirl“ als vertonter Aktmalkurs mit Meerjungfrau an uns vorbei. Manchmal, wie im spröde tänzelnden „Pink Shell“ zum Thema Beziehungsstress, bei „Hamburgerphobia“ und seinem vertonten inneren Kabelbrand oder im Titelstück „Space Heavy“ mit King Krules bärbeißig erhobener Stimme, muss die Dämonenzähmung aber auch kurz einmal für ein reinigendes Donnerwetter pausieren. Zwischen der einen oder anderen Nachtfahrt mit Saxofon fällt die geballte Ereignislosigkeit von Songs wie „If Only It Was Warmth“ als Gegenstück zur allgegenwärtigen Reizüberflutung im Wechselspiel dafür bald aber umso nachhaltiger aus.
Dass der Ringkampf der Pole manchmal auch in ein und derselben Nummer über die Bühne geht, ist wiederum am Beispiel der Singleauskopplung „Seaforth“ zu überprüfen. Die bleibt im Tonfall friedlich, während King Krule mit seiner vierjährigen Tochter am Strand sitzt und dem brennenden Heimatplaneten dabei zusieht, wie er in den Abgrund stürzt.
Danach zieht das rauschende Meer mit seinen Wellen den Sandplatz ab. Der verschwimmende Gesang der Möwen klingt dazu wie blanker Hohn im Ohr. Hallo, Sie, guten Morgen! Aussteigen, bitte. Endstation!
(Wiener Zeitung, 16./17.6.2023)
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