Die deutsche Band Deichkind begann ihre „Neues vom Dauerzustand Tour“ live in der Wiener Stadthalle.
Wenn du glaubst, es geht nicht mehr – und das ist jetzt in erster Linie quantitativ gemeint –, kommt von irgendwo ein überdimensioniertes Bierfass daher. In dem hat sich die deutsche Band Deichkind verschanzt und lässt sich darin einmal quer durch die Wiener Stadthalle rollen. Prost! Lange, nachdem das Konzert zum Auftakt der „Neues vom Dauerzustand Tour“ am Mittwoch vor 10.000 Fans mit „99 Bierkanister“ eröffnet wurde und noch bevor zur Umdichtung der „Internationalen“ im Zeichen des Trinkspruchs („Hört ihr die Signale? Die Saufsignale?“) Freibier durch Schläuche an das Publikum ausgeschenkt wird, befindet man sich schließlich auf dem Höhepunkt eines an quantitativen Höhepunkten reichhaltigen Abends.
Wummern und bummern
Mit Deichkind als Schattentänzern hinter dem Bühnenvorhang und später wie ein bereits in den frühen 1920er Jahren von der russischen Künstlerin Marie Vassilieff erfundenes Tanzperformancekollektiv als Lumpenproletariat mit Leuchttetraeder werden live in Wien jedenfalls keine Gefangenen gemacht. Tatsächlich geht die Stimmung bereits bei den ersten Songs durch die Decke wie sonst nur auf einer durchschnittlichen Maturareise beim Sprung in den Pool, der eigens für die jungen Gäste mit Sangria befüllt wurde.
Leider geil: Mit dem mächtig wummernden und bummernden „So ne’ Musik“ als Türöffner („Die Show kann jetzt beginnen, und alle nur so yeah!“) und dem doppelbödigen „Geradeaus“ über das Problem mit dem Vorankommen im Leben, für das Deichkind die sehr schöne Zeile „Wer nicht walkt, der nicht gewinnt“ eingefallen ist, wird spätestens bei Song Nummer vier auch inszenatorisch voll auf die Kacke gehaut – wie man dazu in Berlin sagen würde. Immerhin beobachtet man bei „Auch im Bentley wird geweint“ MC Kryptic Joe dabei, wie er auf einer überlebensgroßen Luxushandtasche Rodeo reitet und tüchtig mit Goldkette und dicker Hose aufgerüstet den deutschen Gangstarap fickt: „Ich hab’ Klopapier von Gucci / Schneid’ Delfine in mein Sushi.“ Das ist würdig und recht.
Weil heute alles schnell gehen muss, ist man mit einer kurzen Grundsatzrede zugunsten der Letzten Generation dann aber schon wieder anderswo. Deichkind widmen sich dem Thema Nachhaltigkeit und unserem Heimatplaneten, der bekanntlich am Abgrund steht: „Alle Straßen sind geteert / Gelsenkirchen liegt am Meer / In Grönland wachsen Palmen / Alle Groschen sind gefallen.“ Aber: „In der Natur / Da verknackst du dir den Fuß / In der Natur / Da versagt dein Survivalbuch / In der Natur / Da hilft keiner, wenn du rufst / Du hast lange nicht geduscht / Und das hier so nicht gebucht.“ Der moderne Großstadtmensch mag sich zwar grundsätzlich mit Mutter Erde solidarisch zeigen – weit weg vom Beton als Exilant ohne Smartphone in der Hand ist er aber auch ganz schnell dem Verderben ausgesetzt. Mit „Die Welt ist fertig“ und „In der Natur“ eröffnen Deichkind die Abrissparty für eine aus den Fugen geratene Welt, der sich auch das aktuelle Album „Neues vom Dauerzustand“ verschrieben hat. Bereits auf dessen Cover sieht man eine kerzengerade Straßenlaterne in der buchstäblich verrückten Landschaft stehen – oder ist es doch umgekehrt?
Kippend im Späti
Themen wie Schieflagen betrachtet die im Kern aus den MCs Kryptik Joe und Porky sowie Zeremonienmeister La Perla alias DJ Phono bestehende Band, die im Verlauf des Abends noch um eine ganze B-Mannschaft an Ersatz-Deichkindern anwachsen wird, aber auch aus einer ganz anderen Perspektive. Schließlich steht Kryptik Joe irgendwann nicht von ungefähr mit einem gigantischen Rucksack auf der Bühne, der auf ihm lasten dürfte wie das echte Leben auf uns. Kipppunkte gehen bei Deichkind bekanntlich auch auf Druckbetankung im Späti sowie „Richtig gutes Zeug“ als die an dieser Stelle besungene chemische Unterlage zurück. Die playback abgerufene Elektronik beginnt jetzt, wie Hexenwerk zu blubbern – und Trockeneisnebel steigt auf. Dazu trägt Kryptic Joe ausgerechnet am bisher heißesten Tag des Jahres seine alte Daunensteppdecke und versteckt die Pupillen hinter einer gletschertauglich verdunkelten Bergsteigerbrille. Nur dass es in diesem Zustand ohnehin keinen Zentimeter vorwärts geht – von bergauf ganz zu schweigen. „Ich bin so gaga im Roof / Mir hängt die Birne im Sud.“ Aber das wird schon wieder.
Deichkind pendeln schon immer zwischen den Polen – und loten dabei mit voller Absicht Extreme wie Diskurs und Ballermann sowie das Grenzland dazwischen aus. Nach kritischen Liedern über das Erwerbsarbeitsmilieu wie „Arbeit nervt“ und „Bück dich hoch“ steht live also etwa auch eine Rollschuheinlage mit Stringtanga oder ein weiteres Bad in der Menge mit dem Schlauchboot auf dem Programm. Am unvermeidlichen Ende nach zwei Stunden mit „Remmidemmi (Yippie Yippie Yeah)“ sieht die Bühne dann ohnehin aus wie auf einem sehr schrägen Trip – oder nach einem völlig eskalierten Kindergeburtstag. Sogar ein aufgeblasenes Scheißhaufen-Emoji ist diesmal dabei und winkt uns zum Abschied. Richtig gutes Zeug, aber auch: Vorsicht mit den Drogen, Kinder!(Wiener Zeitung, 23.6.2023)
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