Die britische Songwriterin PJ Harvey ist wieder da. Kommende Woche erscheint ihr neues Album.
„So look behind and look before / At life a-knocking at death’s door / So look before and look behind / At life and death all intertwined“: Ein zentrales Thema des Albums wird bereits zum Auftakt mit dem von PJ Harvey im Kirchenlied- und Trauermarschduktus gegebenen Song „Prayer At The Gate“ vorweggenommen. Immerhin ist auf dem Cover ihres kommende Woche erscheinenden neuen und mittlerweile zehnten Studioalbums „I Inside The Old Year Dying“ (Partisan Records/Pias/Rough Trade) nicht von ungefähr ein totes Stück Holz abgebildet. Der karge Ast auf leichentuchweißem Hintergrund steht nicht nur für die Schutzbedürftigkeit von Mutter Natur und den für ein im Hochsommer veröffentlichtes Album eher überraschend ins Visier genommenen Übergang der Jahreszeiten in die Herbst-Winter-Saison. Er steht sinnbildlich auch für den langsamen Abschied – und das Ende von allem.
An der Schwelle
Nach der Tour zu ihrem Vorgängeralbum „The Hope Six Demolition Project“ von 2016 ist die heute 53-jährige Britin in ein existenzielles Loch gefallen. Das ewige Hamsterrad aus Albumproduktion und Ochsentour hat PJ Harvey müde gemacht. Nach knapp dreißig Dienstjahren kam der Sängerin und Songwriterin zwischenzeitlich sogar die Idee, sich beruflich neu zu orientieren. Man kennt das – im Regelfall aber als aufgedrängtes Gedankenspiel, das an die Substanz geht und den Schlaf raubt. Es hieß einatmen und ausatmen. Nachdenken und sich sammeln. Und schließlich weitermachen: Am Ende ist PJ Harvey dann doch wieder in einem Londoner Studio gelandet, um mit Unterstützung ihrer alten Weggefährten und kreativen Soulbrothers John Parish und Mark Ellis alias Flood zu machen, was sie am besten kann.
Nach ihrer im Jahr 2011 mit dem Album „Let England Shake“ eingeläuteten politischen Phase regiert auf „I Inside The Old Year Dying“ nun wieder die Innenschau. Wobei die zwölf in knapp 40 Spielminuten gereichten Songs vor allem das Dazwischen fokussieren: Neben den erwähnten Jahreszeiten und der Schwelle zwischen Leben und Tod geht es nicht zuletzt um den Graubereich zwischen Bewusstsein und Unterbewusstsein – und mit Erinnerungssplittern dorthin, wo man aus Erwachsenenperspektive erneut an die Kindheit denkt. Die liegt jetzt auch schon wieder ein wenig zurück und verschwimmt mitunter wie ein etwas seltsamer Traum vor dem geistigen Auge. Man weiß es zwar noch ganz genau – aber ob es auch wirklich so war?
Mut zur Lücke
Die Autoharp als zentrales Instrument von „Let England Shake“ und die in den Vordergrund gestellten Bläser von „The Hope Six Demolition Project“ bleiben diesmal auf dem Dachboden verstaut. Den messerscharfen Blues von seinerzeit hat PJ Harvey gegen einen verästelten Folkrock mit feinen Zweigen getauscht. Nach dreiwöchiger Schreibarbeit wurden die Stücke schließlich im Studio improvisiert und überwiegend live eingespielt. Nicht immer fallen die Ergebnisse dabei so atmosphärisch dicht aus wie in Miniaturen wie dem keine drei Minuten dauernden „August“, zu dem man am besten nichts macht außer sich an einem heißen Sommertag in die Wiese zu legen und den Wolken beim Vorbeiziehen zuzusehen.
Oft hört man den Songs das Dazwischen auch in ihrem Mut zur Lücke an. Spröde und teils spartanisch angelegt, fallen sie nicht unbedingt mit der Tür ins Haus. Auf Standout-Tracks und Gänsehautmomente, die sich zwischendurch natürlich trotzdem einstellen, scheint PJ Harvey diesmal nicht aus gewesen zu sein. Stattdessen funktioniert das Album vor allem als in sich geschlossene Einheit.
Das Ende
„March wull sarch, Eäpril wull try / Mäy u’ll tell if you’ll live or die“: Als Schwesternstück zu ihrem im Vorjahr vorgelegten Versroman „Orlam“ im Dialekt ihrer südwestenglischen Heimatregion Dorset geschrieben und eingesungen, übersetzt die Musik dabei, was man sich an den Texten bisweilen erarbeiten muss. An biblischen Motiven jedenfalls herrscht kein Mangel, während es über „Lwonesome Tonight“ (sic!) als Gottsuche mit Elvis oder „All Souls“ als Seelenmesse im Holz schließlich in die zweite Hälfte des Albums geht, in der PJ Harvey doch noch zu alter Stärke aufläuft. Erwähnt sei etwa das knochentrockene „A Child’s Question, July“ im Duett mit John Parish oder die händeringende Folk-Litanei „I Inside The Old I Dying“, bei der nicht von ungefähr das letzte Geläut vom Kirchturm her schallt. PJ Harvey erwartet den Erlöser – und geht zum Schluss als Geist unter Geistern um.
Über „A Noiseless Noise“ kreisen dann schon die Fliegen. Die Absenz bricht sich Bahn, ein Leerraum entsteht. Es stinkt zum Himmel: „Go home now love, leave your wandering“: Das ist der letzte Satz des Albums. Und dies ist das Ende.
(Wiener Zeitung, 29.6.2023)
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