Freitag, Juni 02, 2023

Der letzte Mann am Dancefloor

Jake Shears, Kopf der Scissor Sisters, kehrt mit seinem zweiten Soloalbum zurück in die Disco.

Ein Song des Albums heißt „Devil Came Down The Dance Floor“. Darin hat Jake Shears eine schicksalhafte Begegnung mit dem Gottseibeiuns höchstpersönlich. Der wohnt im Normalfall in der Gartenhütte von Keith Richards und darf höchstens in der Rauchpause kurz einmal ins Haus hinein. Oder er verschanzt sich in einer Schwulendisco in Brooklyn zwischen Dancefloor, Darkroom oder, notdürftig mit einem zu weit geschnittenen Trenchcoat verkleidet, in der öffentlichen Herrentoilette neben dem Notausgang. Crazy Ort! Geile Leute.

Ein Matrose auf Landgang

Dort ist auch Jake Shears zu Hause. Gute Güte, es ist wirklich verdammt schwer, sich diesen Mann nicht in einer waffenscheinpflichten Lack-, Leder- und Latex-Montur als New Yorker City Cop mit Freddie-Mercury-Gedenk-Schnauzbart vorzustellen, der sich nach Dienstschluss als Matrose auf Landgang verkleidet – oder die Dragqueen in Strapsen auf einem Fastnacktgschnas in der „Hetenhölle“ in Sankt Veit an der Glan zum Besten gibt. Die hüpft um Mitternacht aus einer Schwarzwälder Kirschtorte heraus, die jemand als Trojanisches Pferd mit Sahnebaiser mitgebracht hat. ÜBER-RASCH-UNG, ihr Schlampen!

Jetzt aber, endlich – endlich ist Tanzen angesagt. Tanzen ist nicht nur die beste Medizin, wenn es darum geht, sich die Lebensfreude zurück in den Alltag zu holen. Tanzen bietet auch bessere Erfolgsaussichten als Tinder und hilft dabei, nicht endgültig fett zu werden, wenn man sich gerade den sechsten Gin Tonic an der Budl bestellt. Gin Tonic ist neben Tanzen übrigens die zweitbeste Medizin. Aber was wollte ich gerade eigentlich sagen?

Ach ja. Jake Shears wurde ursprünglich als Sänger, Kopf und coole Socke der Scissor Sisters bekannt. Die weder jugendfreie noch heteronormative und entsprechend nach einer lesbischen Sexpraktik benannte Glamourband im Fachbereich Discodancing landete ab ihrem 2004 erschienenen selbstbetitelten Debütalbum eine Handvoll Hits, an die man sich auch noch heute erinnern könnte. Mit dem gemeinsam mit Elton John als persönlichem Haus- und Hofheiligen der Band geschriebenen „I Don’t Feel Like Dancin’“ als Visitenkarte wurde zwischen Disco, Pop und etwas Glamrock in erster Linie einmal hedonistisch auf die Pauke gehaut. Der Rest war dann ganz einfach eine etwas längere Party.

Dunkle Sonnenbrillen

Heiliger George Michael, bitte für uns: Nach der von den Scissor Sisters schließlich ab dem Jahr 2012 eingelegten Pause auf unbestimmte Zeit konnte man Jake Shears’ Solodebüt „Jake Shears“ (2018) als dezenten Abnabelungsversuch hören. Es folgten sein Broadwaydebüt, die Autobiografie „Boys Keep Swinging“ sowie zuletzt 2022 das mit James Graham und abermals mit Elton John geschriebene Musical „Tammy Faye“. Mit den zwölf Songs seines nun erstmals bei Mute Records veröffentlichten zweiten Soloalbums „Last Man Dancing“ kehrt der heute 44-Jährige nun aber im großen Stil in die Disco zurück. Selbstverständlich wird zur Feier des Tages auch die gute alte Kuhglocke wieder ausgepackt.

Neben Gastauftritten von Jane Fonda im Rahmen der akut Song-Contest-tauglichen Sci-Fi-Synthiepop-Hymne „Radio Eyes“ mit der aus Gründen wirklich äußerst bedrohlichen Zeile „You will be rebuilt and transformed“ sowie von Iggy Pop zum Abschluss im eklektischen „Diamonds Don’t Burn“ steht mit „Voices“ ein früher Höhepunkt im Duett mit Kylie Minogue auf dem Programm. Mitunter schickt sich Jake Shears dabei tatsächlich an, die Lücke zu füllen, die George Michael nach seinem zu frühen Tod hinterlassen hat. Und man ist deshalb auch eher bereit, ihm den einen oder anderen Schema-F-Song der Marke Disco nach Vorschrift oder die etwas billige „Dancing Queen“-Adaption zu verzeihen, als die das Titelstück des Albums daherkommt.

Nach den Gute-Laune-Songs der ersten Hälfte geht es in Hälfte zwei im fließenden Übergang eines DJ-Sets übrigens endgültig in Richtung Darkroom. Zu im Grenzland von Tech-House und Italo-Disco aus dem Orden des Giorgio Moroder pluckernden und tuckernden Stücken wie „8 Ball“ oder „Mess Of Me“ sind natürlich trotzdem dunkle Sonnenbrillen angesagt. Man könnte davor noch von der Discokugel oder den möglicherweise ganz falschen Nachtgefährten geblendet werden: „I am burning / You are the flame / I break a cold sweat / Forget my name.“

Musikalisch hat Jake Shears zu diesem Zeitpunkt aber ohnehin schon allen Kummer und alle Sorgen vertrieben. Gute Sache, dringend nötig. Hot stuff!

(Wiener Zeitung, 3./4.6.2023)

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