Tyler, The Creator, Kopf von Odd Future: Der US-Hip-Hop hat einen neuen Bad Boy
Im Video zu seiner Single „Yonkers“ lässt Tyler, The Creator, eine Kakerlake über seine Hand krabbeln. Er wird sie später essen, sich übergeben und danach Selbstmord begehen. Zu den letzten Tönen baumeln die Beine des 20-jährigen Rappers und Produzenten aus Los Angeles von der Decke: Wir haben es mit einem der verträglicheren Momente im Werk des jungen Mannes zu tun.
Der 1991 als Tyler Okonma geborene Musiker ist der kreative Kopf eines Hip-Hop-Kollektivs, das derzeit für Diskussionen sorgt. Odd Future Wolf Gang Kill Them All – kurz: Odd Future – reizen, wie auch ihr Mastermind auf seinem aktuellen Soloalbum „Goblin“ beweist, Tabuthemen aus. Neben frauenfeindlichen, homophoben und pornografischen Texten geht es um etwas, das der deutsche Autor Dietmar Dath in Bezug auf die Thrash-Metal-Veteranen Slayer einst als „sinnlosen Hass auf alles“ charakterisierte. Das impliziert auch den Hass auf sich selbst, den Tyler, The Creator mit Selbstmordgedanken zur Schau stellt. Als weiteres Angriffsziel fungiert der Vater als jemand, der nicht mehr ist als der Produzent, der sich frühzeitig davongestohlen und vor seiner Verantwortung gedrückt hat. Dafür gibt es von Tyler, The Creator ein herzliches „Fuck you!“ – im besten Falle.
Man kann die Texte des Mannes, dessen Bariton klingt, als hätten wir es mit einem wesentlich älteren Menschen zu tun, als inakzeptabel abkanzeln. Allerdings wäre dem Phänomen damit nicht Genüge getan. Zum einen sind dem Kollektiv Ironie und Zynismus nicht fremd. Immerhin steht Okonma auch auf „Goblin“ im Dialog mit seinem fiktiven Therapeuten, der in Form einer elektronisch verfremdeten Stimme zur Sitzung lädt. Die plumpe und offensichtliche Provokation der Provokation willen legt wiederum nahe, dass die Formation Hip-Hop als Vehikel für Teenage Riot versteht und letztendlich als Punk gehört werden muss: Die mit Hakenkreuzen bestickte Dienstkleidung diverser Ur-Punks hatte mit Wiederbetätigung auch nichts zu tun. Mit dem Mittel der Bricolage ging es bloß darum, das größtmögliche Erregungspotenzial auszuschöpfen.
Das ist ziemlich dumm und äußerst clever. Mit Masturbationswitzen allein hätte es auch Tyler, The Creator nicht in die „New York Times“ geschafft, die den Rapper für ein Porträt traf und sich vor das Problem gestellt sah, dass seine Äußerungen schlichtweg „unprintable“ waren. Dass Okonma selbst sein Werk nicht kommentiert erschwert zwar den Diskurs, für ihn selbst verstärkt das Rätsel aber den Mythos. Mit dem einzigen bis dato bekannten Erklärungsversuch hat sich der Rapper nämlich nichts Gutes getan. Wie er dem „Guardian“ verriet, sei er keineswegs homophob und verwende das Wort „schwul nur als Adjektiv, um blöden Scheiß zu beschreiben“ – was nun doch eher auf mangelnden Intellekt als auf ein Konzept schließen lässt.
Als Netzphänomen, das seine Arbeiten zunächst über die Microblogging-Plattform tumblr veröffentlichte, um selbstbestimmt an den Vorgaben der Industrie vorbeizuarbeiten, kommen Odd Future jedenfalls all jenen gelegen, die vom größenwahnsinnigen Hip-Hop-Unternehmertum von Stars wie Jay-Z oder Kanye West zunehmend gelangweilt sind und hier das „Echte“ aus einem wie auch immer gearteten Indie-Umfeld zu verehren glauben. Dass die Crew zudem nichts mit Gangsta-Rap im eigentlichen Sinne zu tun hat und Tyler, The Creator eine neue Art des Bad Boy verkörpert, soll da kein Schaden sein.
Auch wenn der Mann mit den Opahemden und Stutzen eher aussieht wie ein pensionierter Jazzklarinettist als ein dürstender Racheengel. Die Widersprüche, man ahnt es schon, haben in diesem Umfeld eine eigene Bedeutung.
Tyler, The Creator: "Goblin" (XL Recordings / Beggars Group)
(Wiener Zeitung, 4./5.6.2011)
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