Freitag, November 11, 2011

Wie ein Geist auf der Leinwand

Während der von Alzheimer geplagte US-Sänger Glen Campbell seine letzte Tournee absolviert, widmet sich der britische Produzent Leyland Kirby alias The Caretaker dem Wechselspiel von Musik und Gedächtnis.

Krankheit, der nahende Tod und die damit einhergehende existenzielle Verzweiflung sind Sujets, die im diesseitig orientierten Pop-Metier nur eine untergeordnete Rolle spielen. Wenn tragisch verstimmte Singer-Songwriter auch nur zu gerne über das Leid am Leben und an den sogenannten Verhältnissen singen, so hat man es dabei doch zumeist mit privilegiertem Weltschmerz zu tun, der in der künstlerischen Verarbeitung gleichsam sein Antigift findet.

Während der Mythos vom leidenden Künstler selbst wiederum zahlreiche Kulturschaffende inspirierte, wie etwa den amerikanischen Schriftsteller Joey Goebel, dessen Roman "Vincent" (Im Original: "Torture The Artist") im Jahr 2004 um nichts anderes kreiste, stellte US-Regisseur David Lynch diesbezüglich eine ganz andere Theorie auf: "Es ist etwas Romantisches", wie er dem deutsch-französischen Sender Arte erzählte, "ein Weg für Männer, Frauen kennen zu lernen. Denn Frauen tut der leidende Künstler leid. Sie wollen für ihn kochen und für ihn da sein. Wenn der Künstler wirklich leiden würde, könnte er gar nicht arbeiten. Negativität ist der natürliche Feind von Kreativität."

Aufstieg, Fall, Errettung

Krankheit, Tod, Verzweiflung - und eine Frau, die tatsächlich für ihn zur Stelle sein muss - sind Glen Campbell hingegen alles andere als fremd. Bei dem amerikanischen Sänger, der vor allem in den 1960er- und 70er Jahren Erfolge als Country-Star feierte, wurde heuer Alzheimer diagnostiziert. Sein im Spätsommer erschienenes Album "Ghost On The Canvas", mit dem er sich aktuell auf Tournee befindet (die nächstgelegenen Konzertstationen im November: Irland und Schottland), wird daher sein letztes sein. In den Liner-Notes zu den 16 neuen Stücken, mit denen der 75-Jährige auf sein Leben zurückblickt, wird klargestellt: Es geht nicht mehr. "Meinen Freunden und meiner Familie habe ich das schon gesagt, doch jetzt, wo es geschrieben steht, fühlt es sich endgültig an."

In der Erinnerung liegt im Alter nicht selten Glückseligkeit. Gegen aktuelle Beschwerden verblasst die Mühsal der Vergangenheit, die schöngefärbt und verklärt wird. Und während bei Alzheimer-Patienten zunächst das Kurzzeitgedächtnis versagt, ist das weiter zurückliegende Gestern vergleichsweise noch gut abrufbar. "I’ve lived at least a thousand lifetimes / Walked down a road with no end in sight / I’ve seen miracles in moonlight / And lonely goodbyes", wie es bei Glen Campbell heißt, der auf dem Album bemerkt, dass ihm außer Hoffnung nichts bleibt - und eine Geschichte von Aufstieg, Fall und Errettung erzählt.

Es ist eine Geschichte, die entfernt an jene von Johnny Cash und June Carter erinnert. Campbell, der seine Karriere als Session-Musiker beginnt, arbeitet im Studio früh mit Stars wie Elvis Presley, Frank Sinatra oder Dean Martin zusammen. Er ersetzt Brian Wilson bei den Live-Konzerten der Beach Boys, weil sich dieser den Reisestress nicht mehr antun will. 1966 spielt Campbell Gitarre auf dem legendären Album "Pet Sounds", ein fixer Bandeinstieg scheitert schließlich an den (schlechten) finanziellen Konditionen.
Immerhin verdient Campbell nicht nur als gefragter Mi(e)t-Musiker bereits bestens, auch als Solokünstler feiert der blonde Cowboy einige Hits: Von Steicherschmelz getragene und in Richtung Pop und Schlager schielende Songs wie das später etwa auch von R.E.M. gecoverte "Wichita Lineman", "Rhinestone Cowboy" oder "Galveston" künden auf Youtube auch noch heute davon. Auf CBS wird Campbell mit seiner eigenen TV-Sendung schließlich zum Showmaster, der so illustre Gäste wie eben Johnny Cash, Willie Nelson oder Neil Diamond empfängt.

Als es um Campbell gegen Ende der 70er Jahre ruhig wird, beginnt seine Alkohol- und Kokainabhängigkeit, die der bekennende (und gemäßigte) Republikaner mithilfe seiner vierten Frau Kim und einer Hinwendung zum jüdischen Glauben bekämpft und besiegt. Trotz vereinzelter späterer Erfolge in den US-Country-Charts ist gegen den musikalisch schon lange gedrehten Zeitgeistwind aber kein Kraut mehr gewachsen. Die großen Erfolge, die Grammy-Awards und Hits bleiben der Vergangenheit vorbehalten.

Zuletzt leistete sich der Sänger mit seinem Comeback-Album "Meet Glen Campbell" im Jahr 2008 einen Modernisierungsschub, indem er Songs von den Foo Fighters, Travis oder Green Day interpretierte. Damit sein von angenehmem und radiotauglich produziertem Midtempo-Rock dominiertes Abschiedsalbum nun auch ein voller Erfolg werden konnte, eilten wiederum so unterschiedliche Musiker wie Billy Corgan (Smashing Pumpkins) oder Chris Isaak ins Studio, um ihren Beitrag zu leisten. Songmaterial wurde von Bob Dylans Sohn Jakob oder Paul Westerberg (The Replacements) zur Verfügung gestellt. 

Die tief in der Erinnerung versunkenen Instrumental-Interludes hingegen berufen sich auf eine Kunst, die der britische Produzent Leyland Kirby mit seinem Projekt The Caretaker zur Meisterschaft führt. Der enigmatische Musiker, der unter seinem Alias V/Vm bevorzugt 80er-Jahre-Hits dekunstruiert, widmet sich auf programmatisch betitelten, gerne streng limitierten und überbordenden Konzeptarbeiten wie "Theoretically Pure Anterograde Amnesia" oder "Additional Amnesiac Memories" dem Wechselspiel von Musik und Gedächtnis.

Flüchtige Geister

Sein heuer veröffentlichtes Meisterwerk "An Empty Bliss Beyond This World" fängt das Wesen der Alzheimer-Krankheit als flüchtigen Geist ein. Mit manipulierten Schellackaufnahmen aus der Zeit um 1920, auf denen opulente Palastorchester zum letzten Walzer und geschulte Klavierspieler in den Teesalon bitten, macht sich über das in den Vordergrund tretende Rauschen, Knistern und Krachen bald auch Beklemmung breit. Die Platte bleibt absichtlich hängen, die Musik reißt mittendrin ab, einzelne Loops kehren gerne auch wieder: The Caretaker spielt auf der Bewusstseinsebene mit den Polen Verwirrung und Vergessen und übersetzt Erinnerungslücken und Gedankensplitter auf eindringliche wie unheimliche Weise mit musikalischen Mitteln. Der von Glen Campbell besungene Geist auf der Leinwand spukt durch den Hallraum: eine musikalische Grenzerfahrung.

Glen Campbell: Ghost On The Canvas. (Sony Music)

The Caretaker: An Empty Bliss Beyond This World. (History Always Favours The Winners)


(Wiener Zeitung, 12./13.11.2011) 

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