Krankheit, der nahende Tod und die damit einhergehende
existenzielle Verzweiflung sind Sujets, die im diesseitig orientierten
Pop-Metier nur eine untergeordnete Rolle spielen. Wenn tragisch verstimmte
Singer-Songwriter auch nur zu gerne über das Leid am Leben und an den
sogenannten Verhältnissen singen, so hat man es dabei doch zumeist mit
privilegiertem Weltschmerz zu tun, der in der künstlerischen Verarbeitung
gleichsam sein Antigift findet.
Während
der Mythos vom leidenden Künstler selbst wiederum zahlreiche Kulturschaffende
inspirierte, wie etwa den amerikanischen Schriftsteller Joey Goebel, dessen
Roman "Vincent" (Im Original: "Torture The Artist")
im Jahr 2004 um nichts anderes kreiste, stellte US-Regisseur David Lynch
diesbezüglich eine ganz andere Theorie auf: "Es ist etwas
Romantisches", wie er dem deutsch-französischen Sender Arte erzählte,
"ein Weg für Männer, Frauen kennen zu lernen. Denn Frauen tut der leidende
Künstler leid. Sie wollen für ihn kochen und für ihn da sein. Wenn der Künstler
wirklich leiden würde, könnte er gar nicht arbeiten. Negativität ist der
natürliche Feind von Kreativität."
Aufstieg,
Fall, Errettung
Krankheit, Tod, Verzweiflung - und eine Frau, die tatsächlich
für ihn zur Stelle sein muss - sind Glen Campbell hingegen alles andere als
fremd. Bei dem amerikanischen Sänger, der vor allem in den 1960er- und 70er
Jahren Erfolge als Country-Star feierte, wurde heuer Alzheimer diagnostiziert. Sein im Spätsommer erschienenes Album "Ghost On The
Canvas", mit dem er sich aktuell auf Tournee befindet (die nächstgelegenen
Konzertstationen im November: Irland und Schottland), wird daher sein letztes
sein. In den Liner-Notes zu den 16 neuen Stücken, mit denen der 75-Jährige
auf sein Leben zurückblickt, wird klargestellt: Es geht nicht mehr.
"Meinen Freunden und meiner Familie habe ich das schon gesagt, doch jetzt,
wo es geschrieben steht, fühlt es sich endgültig an."
In der Erinnerung liegt im Alter nicht selten Glückseligkeit.
Gegen aktuelle Beschwerden verblasst die Mühsal der Vergangenheit, die
schöngefärbt und verklärt wird. Und während bei Alzheimer-Patienten zunächst
das Kurzzeitgedächtnis versagt, ist das weiter zurückliegende Gestern
vergleichsweise noch gut abrufbar. "I’ve lived at least a thousand
lifetimes / Walked down a road with no end in sight / I’ve seen miracles in
moonlight / And lonely goodbyes", wie es bei Glen Campbell heißt, der
auf dem Album bemerkt, dass ihm außer Hoffnung nichts bleibt - und eine Geschichte
von Aufstieg, Fall und Errettung erzählt.
Es ist eine Geschichte, die entfernt an jene von Johnny Cash
und June Carter erinnert. Campbell, der seine Karriere als Session-Musiker
beginnt, arbeitet im Studio früh mit Stars wie Elvis Presley, Frank Sinatra
oder Dean Martin zusammen. Er ersetzt Brian Wilson bei den Live-Konzerten der
Beach Boys, weil sich dieser den Reisestress nicht mehr antun will. 1966 spielt
Campbell Gitarre auf dem legendären Album "Pet Sounds", ein fixer
Bandeinstieg scheitert schließlich an den (schlechten) finanziellen
Konditionen.
Immerhin verdient Campbell nicht nur als gefragter
Mi(e)t-Musiker bereits bestens, auch als Solokünstler feiert der blonde Cowboy
einige Hits: Von Steicherschmelz getragene und in Richtung Pop und Schlager
schielende Songs wie das später etwa auch von R.E.M. gecoverte "Wichita
Lineman", "Rhinestone Cowboy" oder "Galveston" künden
auf Youtube auch noch heute davon. Auf CBS wird Campbell mit seiner eigenen
TV-Sendung schließlich zum Showmaster, der so illustre Gäste wie eben Johnny
Cash, Willie Nelson oder Neil Diamond empfängt.
Als es um Campbell gegen Ende der 70er Jahre ruhig wird,
beginnt seine Alkohol- und Kokainabhängigkeit, die der bekennende (und
gemäßigte) Republikaner mithilfe seiner vierten Frau Kim und einer Hinwendung
zum jüdischen Glauben bekämpft und besiegt. Trotz vereinzelter späterer Erfolge
in den US-Country-Charts ist gegen den musikalisch schon lange gedrehten
Zeitgeistwind aber kein Kraut mehr gewachsen. Die großen Erfolge, die Grammy-Awards
und Hits bleiben der Vergangenheit vorbehalten.
Zuletzt leistete sich der Sänger mit seinem Comeback-Album
"Meet Glen Campbell" im Jahr 2008 einen Modernisierungsschub, indem
er Songs von den Foo Fighters, Travis oder Green Day interpretierte. Damit sein
von angenehmem und radiotauglich produziertem Midtempo-Rock dominiertes
Abschiedsalbum nun auch ein voller Erfolg werden konnte, eilten wiederum so
unterschiedliche Musiker wie Billy Corgan (Smashing Pumpkins) oder Chris Isaak
ins Studio, um ihren Beitrag zu leisten. Songmaterial wurde von Bob Dylans Sohn
Jakob oder Paul Westerberg (The Replacements) zur Verfügung gestellt.
Die tief in der Erinnerung versunkenen Instrumental-Interludes hingegen berufen sich auf eine Kunst, die der britische Produzent Leyland Kirby mit seinem Projekt The Caretaker zur Meisterschaft führt. Der enigmatische Musiker, der unter seinem Alias V/Vm bevorzugt 80er-Jahre-Hits dekunstruiert, widmet sich auf programmatisch betitelten, gerne streng limitierten und überbordenden Konzeptarbeiten wie "Theoretically Pure Anterograde Amnesia" oder "Additional Amnesiac Memories" dem Wechselspiel von Musik und Gedächtnis.
Die tief in der Erinnerung versunkenen Instrumental-Interludes hingegen berufen sich auf eine Kunst, die der britische Produzent Leyland Kirby mit seinem Projekt The Caretaker zur Meisterschaft führt. Der enigmatische Musiker, der unter seinem Alias V/Vm bevorzugt 80er-Jahre-Hits dekunstruiert, widmet sich auf programmatisch betitelten, gerne streng limitierten und überbordenden Konzeptarbeiten wie "Theoretically Pure Anterograde Amnesia" oder "Additional Amnesiac Memories" dem Wechselspiel von Musik und Gedächtnis.
Flüchtige
Geister
Sein heuer veröffentlichtes Meisterwerk "An Empty Bliss
Beyond This World" fängt das Wesen der Alzheimer-Krankheit als flüchtigen
Geist ein. Mit manipulierten Schellackaufnahmen aus der Zeit um 1920, auf denen
opulente Palastorchester zum letzten Walzer und geschulte Klavierspieler in den
Teesalon bitten, macht sich über das in den Vordergrund tretende Rauschen,
Knistern und Krachen bald auch Beklemmung breit. Die Platte bleibt absichtlich
hängen, die Musik reißt mittendrin ab, einzelne Loops kehren gerne auch wieder:
The Caretaker spielt auf der Bewusstseinsebene mit den Polen Verwirrung und
Vergessen und übersetzt Erinnerungslücken und Gedankensplitter auf
eindringliche wie unheimliche Weise mit musikalischen Mitteln. Der von Glen
Campbell besungene Geist auf der Leinwand spukt durch den Hallraum: eine
musikalische Grenzerfahrung.
Glen Campbell: Ghost On The Canvas. (Sony Music)
The Caretaker: An Empty Bliss Beyond This World. (History Always Favours The Winners)
The Caretaker: An Empty Bliss Beyond This World. (History Always Favours The Winners)
(Wiener Zeitung, 12./13.11.2011)

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