Freitag, Dezember 30, 2011

Morgen wird wie heute sein

Die Liste „BBC Sound of …“ 2012 erklärt auch heuer wieder die Popverheißungen der Folgesaison: Pop-Prognostik zwischen Hype, Karriereplanung und selbsterfüllender Prophezeiung

Wenn die Jahresbestenlisten noch nicht veröffentlicht sind, dafür aber bereits über den „neuen heißen Scheiß“ der Folgesaison diskutiert wird, erweist sich ein Zusammenhang wieder einmal als besonders schlagkräftig: Wie auch das Starsystem oder die Sinneinheit Pop als großer Stil- und Eindrucksstaubsauger sind die Medien auf immer neues Futter angewiesen, um sich selbst zu befeuern – und auch ohne Erneuerung des Systems möglichst nicht alt auszusehen. Dieser Spirale entspringen Hypes, an denen am ehesten noch vorbeikommt, wer im alpinen kanadischen Hinterland eine Hütte bewirtschaftet. Schließlich sind Figuren von Madonna bis hin zu Lady Gaga nicht nur am Boulevard schon immer ein Hit. Auch die Cultural Studies oder das Feuilleton nehmen das Phänomen dankbar auf, wenn es darum geht, es nicht nur für sich selbst zu betrachten, sondern darin eine Projektionsfläche in Sachen Gender, Gesamtkunstwerk, Schnitzeljagd und Superstar zu finden oder es mit Theodor W. Adorno in die Frankfurter Schule zu schicken.

Ein Mehr des Selben

Die Ökonomie der Aufmerksamkeit stellt die Weichen dabei auf eines: Das Leben ist eine Dauerwerbesendung, die sich beim Betätigen der On-Taste von selbst lauter stellt. Die Off-Taste wird versteckt wie das „X“ der lästigen Pop-ups bei der Werbung im Internet.

Das Vorrecht aller Verkäufer, hinaus in die Welt zu schreien, wird heute aber nicht nur auf den Finanzmärkten vor ein veritables Problem gestellt. Vor allem die permanent hohe Lautstärke und die Tendenz, in jeder Fliege einen Elefanten zu sehen, stumpfen das Publikum ab. Die Demokratisierung des Einbahnkanals, in dem die Industrie die Stars vorgab und das Publikum nur mehr zugreifen musste, hin zur partizipativen Individualernte auf den schwer überblickbaren Feldern des Internet wiederum brachte eigene Probleme mit sich. Abgesehen von der Hülle des Angebots wurde dabei nicht nur offensichtlich, dass „mehr“ ungleich ein Mehr an Neuem, sondern zu oft ein Mehr vom Selben ist. Das Bemühen, am Rande des Systems in bester Indie-Tradition auf Alleinstellungsmerkmale zu bauen, wurde von gleichmachenden Portalen wie Myspace oder Youtube zudem erheblich erschwert. Von deiner liebsten Hipster-Band aus Williamsburg, New York, hin zu Shakira ist es nur mehr einen Klick weit. Und nicht zuletzt führte die Abwertung des Starbegriffs durch diese Entwicklungen (und die vermeintlichen Supertalente aus dem öffentlich-rechtlichen Privatfernsehen) zur Wiedererstarkung altgedienter Hasen, die allein schon durch ihr langjähriges Verbleiben als authentisch betrachtet werden.

Unterstützung mal Zeit

Dass das langjährige (und noch dazu authentische!) Verbleiben für junge Kräfte erheblich schwieriger geworden ist, macht die Sache nicht besser. Während das Geld für die Förderung von Pop mit Anspruch auch zur Blütezeit des Genres und des Finanzkapitalismus in den 1980er-Jahren nicht wie aus dem Sprinkelbrunnen plätscherte, so war zumindest auf zwei Dinge Verlass: erstens auf Förderer, die Talente erkannten und diesen auf Augenhöhe begegneten, ohne sich dreist an ihnen zu bereichern, und die ihren Schützlingen zweitens Zeit ließen, sich zu entwickeln – und dabei auch Flops einkalkulierten. Wir sprechen von Visionären und Liebhabern wie Tony Wilson (Factory Records) oder Daniel Miller (Mute Records), unter dessen Fittichen sich etwa ein Lumpen-Punk wie Nick Cave zum Welthit mausern konnte.

Gefangen im ewigen Hamsterrad aus Tourneetätigkeit und Veröffentlichungsdruck werden Künstler heute im Eiltempo verheizt – für die gestiegene Chance, schnell (und unter Patronanz der lechzenden Blogosphäre immer öfter nach der Veröffentlichung vereinzelter Songs im Internet und somit noch lange vor einem möglichen Album) an die Öffentlichkeit zu geraten, bedankt sich das System nicht selten mit Ausbeutung. Auf den Hype folgt Ernüchterung, Katerstimmung und professionell abgespulter Dienst, der am Ende dann doch noch angenehmer erscheint als tatsächliche Arbeit – und die Gewissheit, vom einstigen WW-Wunder zu einem kleinen Teil des Ganzen geschrumpft zu sein. Die Arctic Monkeys, gemeinhin als erste Band gehandelt, die den Sprung von Myspace zum Plattenvertrag und zum Weltruhm meisterte, können spätestens seit ihrem diesjährigen Album „Suck It And See“ ein Lied davon singen.

Im Haifischbecken zu fischen, um das solchermaßen auch schon wieder zu suchende „nächste große Ding“ zu prognostizieren, ist somit einerseits kein einfaches Unterfangen. Andererseits erweisen sich die diesbezüglichen Bemühungen einschlägiger Musikmagazine als selbsterfüllende Prophezeiungen: Das Namedropping allein akkumuliert zumindest die Aufmerksamkeit. Vor allem die Liste der „BBC Sound of …“ gilt als höchst erfolgreich darin, die Helden der Folgesaison zu prognostizieren – um sie wahlweise selbst zu machen oder doch auf Nummer sicher zu gehen. Immerhin kann das auf den Einschätzungen von gut 180 Branchenexperten erstellte Ranking auch auf reichlich Insiderwissen über bereits angelaufene Produktionen zurückgreifen.

Eine mutlose Liste

Namen wie die Yeah Yeah Yeahs, Franz Ferdinand, Razorlight, Duffy, Adele, La Roux und Lady Gaga befanden sich bereits auf der Liste, knapp bevor sie jeweils im Mainstream angekommen waren. Für 2011 sollte sich zuletzt der Durchbruch der beiden britischen Dubstep-Songwriter James Blake und Jamie Woon bewahrheiten.

Durchforstet man die traditionell auf fünfzehn Vertreter beschränkte Long-List für das Jahr 2012, fällt neben dem Umstand, dass von zahlreichen der durch die Bank kaum in der Mitte ihrer 20er-Jahre angekommenen Künstler bisher selten mehr vorliegt als je ein, zwei Songs, in der Einschätzung vor allem eine gewisse Mutlosigkeit auf. Auf Kosten tatsächlich neuer Klänge dürfte vor allem miteinbedacht worden sein, was sich schon zuvor gut verkaufen ließ. Zwischen der Street-Credibility des US-Rappers A$AP Rocky, der bereits einen drei Millionen US-Dollar schweren Plattenvertrag an Land ziehen konnte, dem bei Ren Harvieu mit einer durchaus an Leslie Feist erinnernden Stimme orchestriert in Richtung Dusty Springfield oder bei Michael Kiwanuka in Richtung Marvin Gaye getriebenen Retrosoul oder dem Hipster-Sound von Friends aus New York klingt alles so weit wie gehabt. Siehe dazu auch die Fleet-Foxes-Wiedergänger Dry The River oder die skandinavischen Synthie-Pop-Schamanen Niki And The Dove. Jamie N Commons gibt den Lonesome Rider mit Hang zu alttestamentarischen Bildern im Sinne Johnny Cashs und Nick Caves, während Azealia Banks die „Bitch“ zu übernommenen Fremdsamples und unter besonderer Berücksichtigung der Pole „Cunt“ und „Nigger“ mimt.

Der größte Star des Jahres 2012 freilich fehlt auf der Liste: Der Durchbruch von Lana Del Rey mag für eine Prognose schlicht als zu sicher erscheinen. Alternativ könnte man allerdings auch behaupten, dass die US-Sängerin nach Monaten des Social-Media-Geschnatters um zunächst nur einen Song („Video Games“) bereits vor ihrem ersten Album als in der Echtzeitwelt nicht mehr neu genug gilt. Zack-zack. Es geht voran!      

(Wiener Zeitung, 31.12.2011/1.1.2012)

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