Die Liste „BBC
Sound of …“ 2012 erklärt auch heuer wieder die Popverheißungen der Folgesaison: Pop-Prognostik
zwischen Hype, Karriereplanung und selbsterfüllender Prophezeiung
Wenn die
Jahresbestenlisten noch nicht veröffentlicht sind, dafür aber bereits über den
„neuen heißen Scheiß“ der Folgesaison diskutiert wird, erweist sich ein
Zusammenhang wieder einmal als besonders schlagkräftig: Wie auch das Starsystem
oder die Sinneinheit Pop als großer Stil- und Eindrucksstaubsauger sind die
Medien auf immer neues Futter angewiesen, um sich selbst zu befeuern – und auch
ohne Erneuerung des Systems möglichst nicht alt auszusehen. Dieser Spirale
entspringen Hypes, an denen am ehesten noch vorbeikommt, wer im alpinen kanadischen
Hinterland eine Hütte bewirtschaftet. Schließlich sind Figuren von Madonna bis
hin zu Lady Gaga nicht nur am Boulevard schon immer ein Hit. Auch die Cultural
Studies oder das Feuilleton nehmen das Phänomen dankbar auf, wenn es darum
geht, es nicht nur für sich selbst zu betrachten, sondern darin eine Projektionsfläche
in Sachen Gender, Gesamtkunstwerk, Schnitzeljagd und Superstar zu finden oder es
mit Theodor W. Adorno in die Frankfurter Schule zu schicken.
Ein Mehr des Selben
Die
Ökonomie der Aufmerksamkeit stellt die Weichen dabei auf eines: Das Leben ist
eine Dauerwerbesendung, die sich beim Betätigen der On-Taste von selbst lauter
stellt. Die Off-Taste wird versteckt wie das „X“ der lästigen Pop-ups bei
der Werbung im Internet.
Das
Vorrecht aller Verkäufer, hinaus in die Welt zu schreien, wird heute aber nicht
nur auf den Finanzmärkten vor ein veritables Problem gestellt. Vor allem die permanent
hohe Lautstärke und die Tendenz, in jeder Fliege einen Elefanten zu sehen, stumpfen
das Publikum ab. Die Demokratisierung des Einbahnkanals, in dem die Industrie
die Stars vorgab und das Publikum nur mehr zugreifen musste, hin zur partizipativen
Individualernte auf den schwer überblickbaren Feldern des Internet wiederum
brachte eigene Probleme mit sich. Abgesehen von der Hülle des Angebots wurde
dabei nicht nur offensichtlich, dass „mehr“ ungleich ein Mehr an Neuem, sondern
zu oft ein Mehr vom Selben ist. Das Bemühen, am Rande des Systems in bester
Indie-Tradition auf Alleinstellungsmerkmale zu bauen, wurde von gleichmachenden
Portalen wie Myspace oder Youtube zudem erheblich erschwert. Von deiner
liebsten Hipster-Band aus Williamsburg, New York, hin zu Shakira ist es nur
mehr einen Klick weit. Und nicht zuletzt führte die Abwertung des Starbegriffs durch
diese Entwicklungen (und die vermeintlichen Supertalente aus dem
öffentlich-rechtlichen Privatfernsehen) zur Wiedererstarkung altgedienter
Hasen, die allein schon durch ihr langjähriges Verbleiben als authentisch
betrachtet werden.
Unterstützung mal
Zeit
Dass
das langjährige (und noch dazu authentische!) Verbleiben für junge Kräfte
erheblich schwieriger geworden ist, macht die Sache nicht besser. Während das
Geld für die Förderung von Pop mit Anspruch auch zur Blütezeit des Genres und
des Finanzkapitalismus in den 1980er-Jahren nicht wie aus dem Sprinkelbrunnen
plätscherte, so war zumindest auf zwei Dinge Verlass: erstens auf Förderer, die
Talente erkannten und diesen auf Augenhöhe begegneten, ohne sich dreist an
ihnen zu bereichern, und die ihren Schützlingen zweitens Zeit ließen, sich zu
entwickeln – und dabei auch Flops einkalkulierten. Wir sprechen von Visionären
und Liebhabern wie Tony Wilson (Factory Records) oder Daniel Miller (Mute
Records), unter dessen Fittichen sich etwa ein Lumpen-Punk wie Nick Cave zum
Welthit mausern konnte.
Gefangen
im ewigen Hamsterrad aus Tourneetätigkeit und Veröffentlichungsdruck werden
Künstler heute im Eiltempo verheizt – für die gestiegene Chance, schnell (und
unter Patronanz der lechzenden Blogosphäre immer öfter nach der
Veröffentlichung vereinzelter Songs im Internet und somit noch lange vor einem
möglichen Album) an die Öffentlichkeit zu geraten, bedankt sich das System nicht
selten mit Ausbeutung. Auf den Hype folgt Ernüchterung, Katerstimmung und
professionell abgespulter Dienst, der am Ende dann doch noch angenehmer
erscheint als tatsächliche Arbeit – und die Gewissheit, vom einstigen WW-Wunder
zu einem kleinen Teil des Ganzen geschrumpft zu sein. Die Arctic Monkeys,
gemeinhin als erste Band gehandelt, die den Sprung von Myspace zum
Plattenvertrag und zum Weltruhm meisterte, können spätestens seit ihrem diesjährigen
Album „Suck It And See“ ein Lied davon singen.
Im
Haifischbecken zu fischen, um das solchermaßen auch schon wieder zu suchende
„nächste große Ding“ zu prognostizieren, ist somit einerseits kein einfaches
Unterfangen. Andererseits erweisen sich die diesbezüglichen Bemühungen
einschlägiger Musikmagazine als selbsterfüllende Prophezeiungen: Das Namedropping
allein akkumuliert zumindest die Aufmerksamkeit. Vor allem die Liste der „BBC
Sound of …“ gilt als höchst erfolgreich darin, die Helden der Folgesaison zu
prognostizieren – um sie wahlweise selbst zu machen oder doch auf Nummer sicher
zu gehen. Immerhin kann das auf den Einschätzungen von gut 180 Branchenexperten
erstellte Ranking auch auf reichlich Insiderwissen über bereits angelaufene
Produktionen zurückgreifen.
Eine mutlose
Liste
Namen
wie die Yeah Yeah Yeahs, Franz Ferdinand, Razorlight, Duffy, Adele, La Roux und
Lady Gaga befanden sich bereits auf der Liste, knapp bevor sie jeweils im
Mainstream angekommen waren. Für 2011 sollte sich zuletzt der Durchbruch der
beiden britischen Dubstep-Songwriter James Blake und Jamie Woon bewahrheiten.
Durchforstet
man die traditionell auf fünfzehn Vertreter beschränkte Long-List für das Jahr 2012,
fällt neben dem Umstand, dass von zahlreichen der durch die Bank kaum in der
Mitte ihrer 20er-Jahre angekommenen Künstler bisher selten mehr vorliegt als je
ein, zwei Songs, in der Einschätzung vor allem eine gewisse Mutlosigkeit auf. Auf
Kosten tatsächlich neuer Klänge dürfte vor allem miteinbedacht worden sein, was
sich schon zuvor gut verkaufen ließ. Zwischen der Street-Credibility des US-Rappers
A$AP Rocky, der bereits einen drei Millionen US-Dollar schweren Plattenvertrag
an Land ziehen konnte, dem bei Ren Harvieu mit einer durchaus an Leslie Feist
erinnernden Stimme orchestriert in Richtung Dusty Springfield oder bei Michael
Kiwanuka in Richtung Marvin Gaye getriebenen Retrosoul oder dem Hipster-Sound
von Friends aus New York klingt alles so weit wie gehabt. Siehe dazu auch die
Fleet-Foxes-Wiedergänger Dry The River oder die skandinavischen
Synthie-Pop-Schamanen Niki And The Dove. Jamie N Commons gibt den Lonesome
Rider mit Hang zu alttestamentarischen Bildern im Sinne Johnny Cashs und Nick
Caves, während Azealia Banks die „Bitch“ zu übernommenen Fremdsamples und unter
besonderer Berücksichtigung der Pole „Cunt“ und „Nigger“ mimt.
Der größte Star des
Jahres 2012 freilich fehlt auf der Liste: Der Durchbruch von Lana Del Rey mag für
eine Prognose schlicht als zu sicher erscheinen. Alternativ könnte man
allerdings auch behaupten, dass die US-Sängerin nach Monaten des Social-Media-Geschnatters
um zunächst nur einen Song („Video Games“) bereits vor ihrem ersten Album als in
der Echtzeitwelt nicht mehr neu genug gilt. Zack-zack. Es geht voran!
(Wiener Zeitung, 31.12.2011/1.1.2012)

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