Freitag, März 09, 2012

Helium- und Hallgesänge

Claire Boucher aus Montreal produziert unter ihrem Alias Grimes postmodernen Synthie-Pop: Dabei kommt wieder einmal zusammen, was nicht zusammengehört.

Es rappelt im Karton – Claire Boucher ist wieder zurück, und sie hat neue crazy Sounds mitgebracht. Das klingt nun so: Auf Basis gut abgehangener Sequencerbässe, wie man sie vom Synthie-Pop der frühen 1980er-Jahre her kennt, verbreiten gerne auch dem Kitsch verpflichtete, käsige Synthesizer ihren durchaus zweifelhaften Charme. Während sich die Beats anhören, als wäre hier die Guttenberg-Methode angewandt worden, um Prince („When Doves Cry“) oder Depeche Mode („Everything Counts“) mit den Stücken „Colour Of Moonlight (Antiochus)“ und „Circumambient“ zur minimalen Nachbearbeitung nur kurz durch den Laptop zu schicken, erinnern die Sounds etwa daran, dass die unter ihrem Alias Grimes bekannte Kanadierin gerne auch den microKORG-Synthesizer verwendet, wenn sie nicht gerade die Soundbänke der U-96-Version von Klaus Doldingers Filmmusik zu „Das Boot“ auf ihre Wiederverwertbarkeit hin untersucht.

Singende Bordcomputer

Auf ihrem nun vorliegenden und mittlerweile dritten Album, „Visions“, gilt eine alte Weisheit nicht: Das Zurücksetzen von Standardklängen – „Reset the preset!“ – wird tunlichst vermieden; stattdessen plingen und plongen die Keyboards bei ihrem Dienst dann doch lieber auf Werkseinstellung.

Harmonisch wird bei fernöstlichen Anklängen so getan, als wäre ein Soundtrack zu japanischen Anime-Streifen zu komponieren. Dazu kommen die düster-romantischen Züge früher Gothic-Songs genauso wie die naive Aura einer Madonna zur Glanzzeit des Kaugummipop, die Esoterik von Enya und das Wissen um mehr oder minder zeitgenössische R-’n’-B -Produktionen, die nicht nur mit billigen Plastikkeyboards ihre Spuren hinterlassen. Verdrogte, nach singenden Bordcomputern klingende Vocoderstimmen unterstützen die Rhythmusgruppe, verfremdete Harfen drängen als klingelnde Kristalle klirrend ins Klangbild.  

Dass das alles aber nicht weiter ins Gewicht fällt, hat mit der Stimme von Claire Boucher zu tun. Die Frau singt in etwa so, als würden vier nordkoreanische Nachrichtensprecherinnen gleichzeitig den Tod ihres „lieben Führers“ betrauern. Wahlweise darf man auch an zappelige Kleinkinder denken, die bei ihrer Geburtstagsfeier wieder einmal zu tief in den Heliumballon von Ronald McDonald geschaut haben. Vor allem auch die mit reichlich Hall verhangenen Gesangsschlieren sind mit ein Grund, warum der postmoderne Synthie-Pop von Grimes gerne über die Nachwehen des zerfahrenen Witch-House-„Genres“ rezipiert wird. Die auch privat vom Forschungsfeld der Dämonologie angezogene Sängerin hätte mit nämlichem Organ entsprechend von Grusel und Spuk erzählende Texte vorzutragen, würden diese nicht selbst als flüchtige Gespenster unverstanden im Raum verpuffen.

Melancholischer Tanz

Kurz: Obwohl sich die erst 23-jährige Musikerin in ihrer Kunst vor allem mit fremden Federn zu schmücken pflegt, sind den Ergebnissen gleich mehrere Alleinstellungsmerkmale nicht abzusprechen. Nach dem 2010 zunächst noch als Musikkassette (!) und Download im Eigenvertrieb erschienenen Album „Geidi Primes“ und seinem rasch hinterhergeschobenen Nachfolger „Halfaxa“ setzt Claire Boucher mit ihrem nun auf dem renommierten 4AD-Label veröffentlichten dritten Streich folgerichtig zum Durchbruch an. Wenn die augenscheinliche Do-it-yourself-Haltung des Projekts dabei auch beibehalten wurde, so sind die Pop-Ambitionen von Grimes heute doch deutlicher vernehmbar – was wiederum nicht heißen soll, dass man etwaige Mitbewohner, Nachbarn oder Arbeitskollegen mit dieser Musik nicht weiterhin bis aufs Blut reizen könnte.

Vieles an den Liedern von Claire Boucher mag wie mit dem Augenzwinkern einer Kunststudentin ironisch gebrochen erscheinen, und doch stellt Grimes mit „Visions“ beim melancholischen Tanz durch das Wohnzimmer einmal mehr klar, dass es ihr mit ihrem Werk mehr als nur ernst ist. Das ist freilich nur halb so unterhaltsam wie der böllernde Shoegazing- Elektro-Witch-House-Hop von Salem, es geht sich aber trotzdem aus: Am Ende des Jahres wird Grimes auf zahlreichen Bestenlisten ganz oben zu finden sein. 

Grimes: Visions (4AD)

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