Die Sache mit
dem Veranstaltungsmotto – die „Vertreibung ins Paradies“ und somit auch
die Flucht nach Utopia – sollte am Montag ausgerechnet in der Minoritenkirche
nicht funktionieren: Scout Niblett, die in ihrer Kunst vor allem das Hier und
Heute (wie überwiegend dessen Schattenseite) beschwört, half dem Donaufestival dafür
allerdings, sein Bemühen um „ungewöhnliche Hochzeiten“ streckenweise höchst gelungen
zu illustrieren.
Gemeinsam
mit Lapdog of Satan, einem in New York ansässigen Filmmusikproduzenten- und
Metalduo, das am ersten Wochenende in Krems auch die Produktionen von CocoRosie
musikalisch umrahmte, erfuhr Nibletts spartanischer Zwei-bis-vier-Spuren-Sound eine
entscheidende Erweiterung. Tatsächlich gelang der auf ihren Alben zwischen den
kargen Bluesrockriffs einer frühen PJ Harvey und jeder Menge schlechter Laune
aus dem Kellergewölbe des Grunge pendelnden Britin über die Beigabe
granitharter Metalakkorde und donnernder Dampfhammer-Drums ein dringlicher
Live-Sound, mit dem auch eingedenk vergangener Wien-Konzerte so nicht zu
rechnen war. Von verschlepptem Doom und Donner ging es nach ätherischen
Klangstudien mit gelooptem Cello überraschend hin zu Vintage-Soul mit
Torch-Charakter und letztlich zur Einführung des Bassklarinettensolos in das
Schaffen Scout Nibletts.
Außenseiterhymnen
Bestimmt
wurde das Geschehen aber vom US-amerikanischen Geschwisterduo CocoRosie, dem es
in seiner musikalischen Kunstwelt aus eklektischem Found-Footage-Folk bereits
langweilig geworden sein dürfte. Immerhin verlagert man sich derzeit in
Richtung szenische Inszenierung, wie mit „Nightshift“ eine Produktion Bianca
Casadys unterstrich. Als Tanzstück mit Längen und Hang zu Erzählstimme, „Blair-Witch“-Wäldern
und der entsprechenden Dogma-Kamera, ging es zu E und U vereinenden Tönen bald
um eines: Festgemacht an der Geschichte eines kleinen Mädchens, sollte eine
Außenseiterhymne angestimmt werden, die verlorene (da gestohlene) Unschuld, den
Abstieg in die Niederungen der menschlichen Seele und den Umgang damit
abhandelte. Unter Zutun des brasilianischen Choreografen Biño Sauitzvy, ihrer
Schwester Sierra oder der Vogue-Tänzerin Leiomy Maldonado aus New York sah man
kryptische Szenen, die das Böse der Welt mit dem Streben nach „Transzendenz“ konfrontierten.
Eine Vogelscheuche erwachte für den Totentanz kurzfristig zum Leben. Das Heer
der ewigen Zombies zitterte seinen Weg über die nachtschwarze Bühne. Der auf
einen mannshohen Fliegenpilz gefallene Pornoengel zauberte ein Schlüsselloch vor
das geistige Auge. Dazu kam die Erkenntnis, dass Aschenputtel heute
Latexstiefel trägt, und vor allem, dass das Melodram zwecks maximaler Wirkung
auch im zeitgenössischen Ausdruckstanz noch immer in den Himmel drängt.
Esoterik-Schrott
Wie
vor allem das unter dem Motto „Die achte Nacht“ verkaufte Abschlusskonzert
CocoRosies gemeinsam mit dem französischen Beatboxer Tez, den indischen
Folkloristen Rajasthan Roots, US-Ausnahmestimme Antony Hegarty (Antony and the
Johnsons) und letztendlich zahlreichen weiteren Mitmusikern erklären sollte, schließen
die Casady-Schwestern nun aber nahtlos an das geistige Erbe ihres als
Wanderprediger und Schamane tätigen Vaters an. Befreiungstänze mit glückseligem
Erleuchtungsblick nahe am Endstadium des yogischen Fliegens, indische Folklore
als hippieskes Mysterientheater auf der Suche nach dem größten Guru aller
Zeiten, ein Konzert als Sondermülldeponie aus esoterischem Schrott – kurz: Man konnte
während dieses nicht und nicht enden wollenden Auftritts darüber spekulieren,
welche Drogen hier genau im Spiel gewesen sein mochten, oder andere wichtige
Fragen erörtern: Wann sind wir endlich daheim? (Wir sind nie daheim!) Was
brauche ich morgen noch alles vom Supermarkt außer Brot und Milch? (Mist, es
ist doch Tag der Arbeit …) Darf ich dir noch ein Bier holen gehen oder Zigaretten
von weit drüben im Ort? Bitte. Bitte! Bitte?!?
Was genau Gott in der
achten Nacht nun getrieben hat, blieb letztlich im Dunkeln. Sicher ist nur: Die
Nacht war lang.
(Wiener Zeitung, 2.5.2012)

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