Dienstag, Mai 01, 2012

Der Spirit sei mit dir

Ausdruckstanz und schlechte Laune beim Donaufestival in Krems - CocoRosie bestimmten das Geschehen als Artists in Residence

Die Sache mit dem Veranstaltungsmotto  –  die „Vertreibung ins Paradies“ und somit auch die Flucht nach Utopia – sollte am Montag ausgerechnet in der Minoritenkirche nicht funktionieren: Scout Niblett, die in ihrer Kunst vor allem das Hier und Heute (wie überwiegend dessen Schattenseite) beschwört, half dem Donaufestival dafür allerdings, sein Bemühen um „ungewöhnliche Hochzeiten“ streckenweise höchst gelungen zu illustrieren.

Gemeinsam mit Lapdog of Satan, einem in New York ansässigen Filmmusikproduzenten- und Metalduo, das am ersten Wochenende in Krems auch die Produktionen von CocoRosie musikalisch umrahmte, erfuhr Nibletts spartanischer Zwei-bis-vier-Spuren-Sound eine entscheidende Erweiterung. Tatsächlich gelang der auf ihren Alben zwischen den kargen Bluesrockriffs einer frühen PJ Harvey und jeder Menge schlechter Laune aus dem Kellergewölbe des Grunge pendelnden Britin über die Beigabe granitharter Metalakkorde und donnernder Dampfhammer-Drums ein dringlicher Live-Sound, mit dem auch eingedenk vergangener Wien-Konzerte so nicht zu rechnen war. Von verschlepptem Doom und Donner ging es nach ätherischen Klangstudien mit gelooptem Cello überraschend hin zu Vintage-Soul mit Torch-Charakter und letztlich zur Einführung des Bassklarinettensolos in das Schaffen Scout Nibletts.

Außenseiterhymnen

Bestimmt wurde das Geschehen aber vom US-amerikanischen Geschwisterduo CocoRosie, dem es in seiner musikalischen Kunstwelt aus eklektischem Found-Footage-Folk bereits langweilig geworden sein dürfte. Immerhin verlagert man sich derzeit in Richtung szenische Inszenierung, wie mit „Nightshift“ eine Produktion Bianca Casadys unterstrich. Als Tanzstück mit Längen und Hang zu Erzählstimme, „Blair-Witch“-Wäldern und der entsprechenden Dogma-Kamera, ging es zu E und U vereinenden Tönen bald um eines: Festgemacht an der Geschichte eines kleinen Mädchens, sollte eine Außenseiterhymne angestimmt werden, die verlorene (da gestohlene) Unschuld, den Abstieg in die Niederungen der menschlichen Seele und den Umgang damit abhandelte. Unter Zutun des brasilianischen Choreografen Biño Sauitzvy, ihrer Schwester Sierra oder der Vogue-Tänzerin Leiomy Maldonado aus New York sah man kryptische Szenen, die das Böse der Welt mit dem Streben nach „Transzendenz“ konfrontierten. Eine Vogelscheuche erwachte für den Totentanz kurzfristig zum Leben. Das Heer der ewigen Zombies zitterte seinen Weg über die nachtschwarze Bühne. Der auf einen mannshohen Fliegenpilz gefallene Pornoengel zauberte ein Schlüsselloch vor das geistige Auge. Dazu kam die Erkenntnis, dass Aschenputtel heute Latexstiefel trägt, und vor allem, dass das Melodram zwecks maximaler Wirkung auch im zeitgenössischen Ausdruckstanz noch immer in den Himmel drängt.

Esoterik-Schrott

Wie vor allem das unter dem Motto „Die achte Nacht“ verkaufte Abschlusskonzert CocoRosies gemeinsam mit dem französischen Beatboxer Tez, den indischen Folkloristen Rajasthan Roots, US-Ausnahmestimme Antony Hegarty (Antony and the Johnsons) und letztendlich zahlreichen weiteren Mitmusikern erklären sollte, schließen die Casady-Schwestern nun aber nahtlos an das geistige Erbe ihres als Wanderprediger und Schamane tätigen Vaters an. Befreiungstänze mit glückseligem Erleuchtungsblick nahe am Endstadium des yogischen Fliegens, indische Folklore als hippieskes Mysterientheater auf der Suche nach dem größten Guru aller Zeiten, ein Konzert als Sondermülldeponie aus esoterischem Schrott – kurz: Man konnte während dieses nicht und nicht enden wollenden Auftritts darüber spekulieren, welche Drogen hier genau im Spiel gewesen sein mochten, oder andere wichtige Fragen erörtern: Wann sind wir endlich daheim? (Wir sind nie daheim!) Was brauche ich morgen noch alles vom Supermarkt außer Brot und Milch? (Mist, es ist doch Tag der Arbeit …) Darf ich dir noch ein Bier holen gehen oder Zigaretten von weit drüben im Ort? Bitte. Bitte! Bitte?!?

Was genau Gott in der achten Nacht nun getrieben hat, blieb letztlich im Dunkeln. Sicher ist nur: Die Nacht war lang.

(Wiener Zeitung, 2.5.2012)

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