Alan Wilders Projekt Recoil erlebt sein Live-Debüt – derzeit auf Europa-Tour
- Das ehemalige Mitglied der britischen Pop-Institution Depeche Mode im Interview
Mister Wilder, Sie sind bereits seit dem Jahr 1986 als Recoil aktiv. Derzeit sind Sie auf Tournee und geben Ihre ersten Live-Konzerte als Solokünstler. Warum so spät?
Dafür waren einige Faktoren entscheidend. Zunächst etwa, dass im April meine Compilation "Selected" erscheint, ein Rückblick auf mein bisheriges Schaffen. Ich habe also all meine Aufnahmen mit der Absicht durchgehört, sie zu remastern und vielleicht auch den einen oder anderen Remix zu veröffentlichen. Dabei habe ich nicht nur bemerkt, dass es um eine große Menge an Material geht, aus der auszuwählen ist, sondern auch, dass das Ganze auf der Bühne funktionieren könnte. Außerdem ist es heute erstmals kosteneffektiv möglich, hochwertige Visuals zur Musik zu bieten. Früher wäre das nicht gegangen, aber mit günstigen HD-Kameras, Software und willigen Mitwirkenden kann man schnell und effektiv arbeiten.
Mit dem Tourleben haben Sie schon verheerende Erfahrungen gemacht. Sie sind bei Depeche Mode nach der erschöpfenden "Devotional"- bzw. "Exotic"-Tour, die von den Exzessen und Streitereien Ihrer Ex-Kollegen bestimmt war, im Jahr 1995 ausgestiegen.
Meine Tour läuft noch nicht lange, ich muss mich also erst wieder daran gewöhnen. Es ist natürlich anstrengend, aber an sich habe ich auch das Touren mit Depeche Mode genossen. Beziehungsweise hatte ich das Gefühl, dass die Zeit, in der wir unterwegs waren, noch unser geringstes Problem darstellte. Meine Reise mit Recoil kann man mit einer solchen Großproduktion aber ohnehin nicht vergleichen. In vielerlei Hinsicht ist meine kleine Tour schwieriger durchzuführen. Jeder Termin ist anders. Und ich lege selbst deutlich mehr Hand an, was die Vorbereitungen und organisatorische Dinge betrifft.
Früher haben Sie die Möglichkeit von Konzerten stets angezweifelt, weil Ihre Musik live nur schwer umsetzbar sei. Wie darf man sich Recoil auf der Bühne nun vorstellen?
Für mich sind das weniger Live-Konzerte als vielmehr Installationen. Es ist die Präsentation meines Schaffens. Gemeinsam mit meinem Bühnen-Partner Paul Kendall verwende ich Laptops, Ableton Launchpads und Synthesizer zur Klangbearbeitung. Dazu hinterlassen die Visuals, an denen vier Regisseure gearbeitet haben, hoffentlich starke Eindrücke. Auch der eine oder andere Live-Gast gesellt sich zu uns.
Konzerte, die sich ausschließlich oder überwiegend auf Laptops stützen, sind heute keine Seltenheit mehr. Aus der Kritik sind sie dennoch nie geraten.
Das hat natürlich mit der Erwartungshaltung zu tun – und ist etwas, das mich auch besorgt, wenn ich ehrlich bin. Deshalb weise ich stets darauf hin: Es geht um das audiovisuelle Gesamterlebnis. Für alles andere gibt es genug Standardbands da draußen.
Vor kurzem sind Sie wieder mit Depeche Mode aufgetreten. Genauer: Sie haben Martin Gore zu "Somebody" in der Royal Albert Hall am Klavier begleitet. Damit hatte keiner mehr gerechnet.
Dave Gahan hat mich gefragt. Und nachdem ich in Erfahrung gebracht hatte, dass auch der Rest der Band voll hinter dieser Idee steht, stimmte ich zu. Wir haben uns getroffen, viel geplaudert, den Soundcheck gemacht – und dann kam die Show. Ich habe es genossen und fand es interessant, für einen Tag in den Zirkus zurückzukehren. Das Publikum hat mir einen herzlichen Empfang bereitet und mich daran erinnert, was für ein berauschendes Gefühl das ist. Überwältigt war ich von den Reaktionen und Danksagungen, die ich seither bekommen habe. Das war bewegend.
Reunion-Gerüchte hat der Auftritt natürlich bestärkt. Die Chance lebt?
Diese Frage wird mir derzeit natürlich am häufigsten gestellt. Und ich kann nur sagen: Im Moment gibt es keine weiteren Pläne mit Depeche Mode. Mit Recoil steht jetzt einmal die Tour im Vordergrund, danach werde ich hoffentlich mit neuem Material weitermachen. Sprich: Natürlich erst, wenn die Fußball-Weltmeisterschaft zu Ende ist.
Alan Wilder, geboren 1959 in London, war 1982 bis 1995 Mitglied der britischen Pop-Institution Depeche Mode, deren Sound er maßgeblich mitprägte. Nach dem Ausstieg konzentrierte er sich auf sein Soloprojekt Recoil, mit dem er auf Alben wie "Unsound Methods" und "Liquid" vielschichtige, filmmusikähnliche Klangstudien zaubert. Im April erscheint die Kompilation "Selected" (Mute/EMI).
(Wiener Zeitung, 8.4.2010)
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