Mittwoch, Juni 09, 2010

Anstrengende Auszeiten im Gatsch

Die Festivalsaison hat begonnen: Auch heuer gewinnen Nova Rock, Frequency & Co die Massen für sich

Wien. Als im Sommer des Jahres 1969 mit dem Woodstock-Festival nicht nur der Höhepunkt der Hippie-Bewegung erreicht war, sondern sich auch die zwei Jahre davor mit dem Monterey Pop Festival eingeläutete Kulturrevolution des Rock-Festivals zu institutionalisieren schien, konnte eines noch nicht geahnt werden: Gut dreieinhalb Jahrzehnte später würde der heiße Trend aus den USA auch in Österreich angekommen sein.

Während im burgenländischen Wiesen mit dem Jazzfest bereits seit 1976 und ab Mitte der 90er-Jahre mit dem Rock ’n’ Roll verpflichteten Veranstaltungen wie dem Forestglade oder dem Two Days A Week in überschaubarem Rahmen einer Idee gehuldigt wurde, kamen die neuen Großfestivals nicht nur vergleichsweise monströs daher. Veranstaltungen wie das in den Jahren 2004 und 2005 in Wiener Neustadt abgehaltene Aerodrome oder die bis heute existierenden Festivals Nova Rock und Frequency sind mit bis zu 50.000 Besuchern täglich nichts weniger als bis ins letzte Detail durchorganisierte Massenpartys zum Zweck der Kapitalakkumulation, die mit befreundeten Wirtschaftszweigen eng kooperieren.

Plötzlich frohlocken also auch die Bürgermeister des Landes über Menschen mit freiwilligem Hygienedefizit und einem Hang zu massigem Bierkonsum. Stichwort: Umwegrentabilität, Lustbarkeitsabgaben, Imagetransfer, ohne Geld ka Musi. Oder um es mit den ewigen Hard-Rockern Kiss auszudrücken: Nickelsdorf Rock City, und auch der ORF kommt zu uns in den Ort. Wie zuletzt, als der Moser Rudl mit dem Zweier-Golf einen Rehbock und den Hansi vom Huber-Bauern erwischt hat.

Während man sich also daran gewöhnen musste, dass die Autofahrt von Wien ins Burgenland gut und gerne drei Stunden und länger dauern kann, erwiesen sich die Umstände auf den Panonia Fields, dem Schauplatz des Nova Rock, als bestenfalls bescheiden.

Man konnte die Menschen plötzlich verstehen, die bereits nachmittags als zünftige Alkoholleichen um Verdrängung bemüht waren. Zwischen Gatsch, nicht näher definiert werden wollenden Lachen oder der je nach Wind wechselnden Geruchsbelästigung durch Dixi-Klos und Pommesbuden ging die Party richtig ab. Man kann sich darauf nur einlassen – oder schleunigst das Weite suchen.

Trotz logistischer Nachbesserungen, etwa in Bezug auf die "Lenkung von Besucherströmen", sind Großfestivals aber per se kein Erholungsurlaub. Sie sind anstrengende Auszeiten vom Leben da draußen, die sich der Realität ihres hierzulande recht jungen Kernpublikums entsprechend als ewige Klassenfahrt definieren. Es geht um nichts und möglichst kein Niveau, es geht darum, sich ein Peckerl am Arm zu verpassen und beim Rodeo-Reiten den Felix aus der ehemaligen 7b ganz schön wucki zu machen. Die Schule ist vorbei, die Noten sind schlecht. Mama und Papa sind doof – und vor allem nicht da. Danke trotzdem für das Ticket und bitte mehr Taschengeld, auch Burger, Bier und lustige Zigaretten werden von der Inflation nicht verschont!

Bereits 130 Euro zahlt man für drei Tage Nova Rock inklusive Campingplatz und Parkmöglichkeit, das Gleiche gilt für das im Vorjahr vom Salzburgring an den Stadtrand St. Pöltens übersiedelte Frequency – nicht nur in Zeiten der Wirtschaftskrise eine Menge Geld. Dass das Konzept aufgeht, können sich Veranstalter wie Ewald Tatars Agentur Nova Music, zuständig für das Nova Rock, sowie Harry Jenners Unternehmen Musicnet, das sich um das Frequency kümmert, schon während dem Jahr ausrechnen. 300 bis 400 Konzerte veranstalten die über die gemeinsame PR-Agentur FMS (Freundliches Marketing Service) eng verknüpften Firmen pro Jahr; darunter befinden sich heuer etwa Auftritte so unterschiedlicher Publikumslieblinge wie Norah Jones, Kiss, Lady Gaga oder Bob Dylan, die trotz beachtlicher Ticketpreise für volle Häuser sorgen.

Die Krise der Musikindustrie ist vor allem eine Tonträgerkrise, die über den Live-Sektor und dessen Verwertungskette mit Merchandising-Produkten und Mitschnitten auf CD, DVD oder USB-Sticks kompensiert werden will. Davon profitieren Macher wie Jenner, der sein Handwerk bei Franz Bogner in Wiesen erlernte – ehe er sich nach einem Disput selbstständig machte, um heute als Marktführer dazustehen.

Als wesentlichste Veränderung in der Festivallandschaft der letzten Jahre lässt sich eine Diversifizierung des Angebots ausmachen. Von den Großfestivals bietet nur mehr das Frequency eine breit gefächerte Leistungsschau von etwas, das man als "Alternative Mainstream" bezeichnen darf. Während das immer ein wenig orientierungslose Nuke mit dem Vorjahr eingestellt wurde, fokussiert das Nova Rock mit Vertretern wie Rammstein, Slayer und Green Day die tendenziell härtere Schiene. Dazu kommen das Sun splash, das auf Afro-, Latin- und Reggae-Klänge spezialisiert ist, die Nova Jazz & Blues Night oder das seit 2006 ausgetragene Lovely Days Festival. Vor allem dieses reüssiert mit nostalgischem Mehrwert und konnte mit nicht mehr ganz taufrischen Bands wie Jethro Tull, Uriah Heep, The Who oder Deep Purple auch ein finanzkräftiges älteres Publikum für sich gewinnen.

Und während Graz mit dem Spring-Festival sowie dem zusätzlich mit Vorträgen und Workshops um die Diskurse der Zeit bemühten Elevate als Hauptstadt der elektronischen Musik bezeichnet werden muss und das Donaufestival die internationale Pop-Avantgarde jährlich nach Krems bringt, sollte auch auf die bisweilen vom Ehrenamt abhängigen Kleinstfestivals nicht vergessen werden. Schließlich wird in der Pampa mit viel Idealismus und Herzblut dafür gekämpft, abseits der international durchprogrammierten Großfestivals unvergessliche Sommernächte in familiärer Atmosphäre möglich zu machen. Das geschieht teilweise für den guten Zweck, wie im Falle des Bock Ma’s, das seit 2005 am Areal um die Burgruine Altwartenburg zugunsten des Vereins Ute Bock durchgeführt wird. Heuer gastieren etwa Bunny Lake oder die wunderbare Anna Kohlweis alias Paper Bird im oberösterreichischen Timelkam. Und auch das Seewiesenfest in Kleinreifling, das heuer die Hidden Cameras für sich gewinnen konnte, sei hier erwähnt.

Wenn am Samstag in Nickelsdorf die Thrash-Metal-Legenden Slayer die Bühne betreten, darf man das alles aber gleich wieder vergessen. Mama und Papa mögen für immer in Frieden ruhen. Bier ist etwas für Schwächlinge, die keinen Schnaps vertragen. Hass ist unsere Liebe, Aggression unsere Zärtlichkeit. Und das Rock-Festival als solches wieder ein Tummelplatz der verhaltensauffälligen Jugend, der es vor allem um eines geht: um nichts – und möglichst kein Niveau.

Hintergrund und Ausblick

Erste Rockfestivals wurden in der zweiten Hälfte der 1960er Jahre ausgetragen: Als Geburtsstunde gilt das Monterey Pop Festival, das zwischen 16. und 18. Juni des Jahres 1967 je nach Angabe zwischen 55.000 und 90.000 Besucher anlockte. Künstler von Janis Joplin bis hin zu The Who traten gratis auf, die Erlöse wurden für karitative Zwecke gespendet – ein Gedanke, den Bob Geldof mit Veranstaltungen wie Live Aid oder Live 8 in stark abgewandelter Form wiederaufnahm.

Die jährlich im Sommer abgehaltenen Großfestivals folgen hingegen schon lange kommerziellen Interessen und sind solchermaßen zum Wirtschaftsfaktor geworden: Stars wie Metallica verdienen pro Auftritt zumindest hohe sechsstellige Summen.

Die meisten Veranstaltungsreihen finden aus logistischen Gründen am Land statt, allerdings verstanden es Städte wie Budapest mit dem Sziget-Festival sowie Barcelona mit dem Benicàssim, dem Primavera Sound und dem auf elektronische Musik fokussierten Sónar, zusätzliche touristische Zweige zu erschließen.

Die größten Festivals hierzulande sind das Nova Rock (Nickelsdorf, 11. bis 13. Juni, mit Green Day, Rammstein, Slayer) und das Frequency (St. Pölten, 19. bis 21. August, mit LCD Soundsystem, Massive Attack, Muse). Außerdem stehen heuer auf dem Spielplan: Die Nova Jazz & Blues Night (Wiesen, 24. Juli, mit Jamiroquai, Gil Scott Heron, Gotan Project), das Poolbar-Festival (Dornbirn, 2. Juli bis 22. August, mit Ebony Bones!, Shout Out Louds) oder das Two Days A Week (Wiesen, 2. bis 4. September, mit Placebo, Limp Bizkit).

(Wiener Zeitung, 10.6.2010)

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