Freitag, August 13, 2010

Holt mich hier raus!

Arcade Fire meistern die Hürde des dritten Albums: Auf "The Suburbs" kreist die kanadische Band um den Mythos Vorstadt.

Geht man davon aus, dass die Jugend sich lösen muss – von Mama, Papa und all den anderen Menschen, die zu viel über ihre Vergangenheit wissen –, so finden wir darin ein fruchtbares Ursujet der Popmusik: bedingt Veränderung doch nicht nur, dass wahlweise melancholisch, wehmütig, mit einer guten Portion Gram oder unter Zuhilfenahme des Mittelfingers zurückgeblickt werden kann. Es gilt nun vor allem, entschlossen aufzubrechen und Neuland zu gewinnen. Die Zukunft ist unsicher, aber gewiss. Oder: Es geht voran, weil es muss.

Arcade Fire singen nicht erst seit heute ein Lied davon. Dem 2002 in Montréal gegründeten Kollektiv um das Ehepaar Win Butler und Régine Chassagne ist es zu eigen, den Spalt zwischen Vergangenem und Kommendem musikalisch zu erschließen. So geschehen auf dem programmatisch "Funeral" betitelten Debütalbum (2004), dessen Entstehungsprozess von zahlreichen Todesfällen im Umfeld der Musiker überschattet wurde, sowie dem deutlich pessimistischeren Zweitling "Neon Bible" aus 2007.

Allerdings hat sich die vermutlich prägendste Band der vergangenen Dekade für ihr drittes Album ein Überthema ausgesucht, das diesen, von Verunsicherung und Haltlosigkeit bestimmten Zustand besonders anschaulich zu untermalen vermag. Der Titel legt es schon nahe: "The Suburbs" kreist um die Vorstadt als solche, mit ihrer (klein-)bürgerlichen Idee vom Familienidyll zwischen Blumenbeet und Hobbyraum, Chevrolet und Gartenzaun.

Temporäre Rückkehr

Für die Jugend gibt es hier nichts zu holen. Die Großstadt mit ihren Verheißungen ist (noch) unerreichbar, die Sehnsucht ist groß. Wer keine Freunde hat, ist verloren. Der Rest verbrüdert sich und plant beim Samstagsbier schon heute die Flucht nach Utopia. Das kennt man in der steirischen Pampa ebenso wie im Ruhrpott, wenngleich die US-amerikanischen Suburbs einen ganz eigenen Subkosmos bilden. Auch Win Butler ist diesbezüglich ein gebrandmarktes Kind. Eine Wiederbegegnung mit seiner alten Heimat in The Woodlands, Texas, inspirierte die 16 neuen Stücke, die aus der Perspektive des temporär Zurückkehrenden ebenso erzählen wie aus jener des dort Heranwachsenden.

Euphorie kommt dabei nicht auf, die Vorstadt tönt traurig. Was die Band damit sagen will: Mehr als gedämpften Optimismus kann dieser Alltag nicht evozieren. Während es dem Septett einst verspielt rasselnd und später symphonisch befeuert gelang, die harten Fakten des Lebens in vor Euphorie überbordende, hymnische Popmanifeste zu verwandeln, sperren sich die neuen Stücke ein wenig.

Die auch mit einer Spielzeit von 64 Minuten auf Konzentration gepolte Arbeit, die ebenso wie Joanna Newsoms im Februar veröffentlichte Platte "Have One On Me" als unbedingtes Lebenszeichen des gerne tot gesagten Albumformats gesehen werden muss, fällt nicht mehr wie früher nur mit der Brechstange ins Haus: Man muss sich diese Musik in mehreren Durchgängen erst einmal erarbeiten. Negativ betrachtet könnte man über Lieder wie das etwa an die Fleet Foxes erinnernde "Half Light I" oder das im 3/4-Takt alles andere als Walzerglückseligkeit aufkommen lassende "Sprawl I (Flatland)" aber auch sagen, dass es hier vermutlich an Dringlichkeit mangelt, und die Grandezza von früher schlicht nicht erreicht wird.

Anderswo wird man dafür reichlich belohnt. Gleich das einläutende Titelstück bündelt die Kernkompetenzen der Band mit ihrem Wissen um den Folkrock Neil Youngs, während "Rococo" mit seinem stampfenden Pomp noch gut aufs "Neon-Bible"-Album gepasst hätte. Überhaupt beeindruckt die stilistische Vielfalt, die Arcade Fire hier zur Schau stellen, ohne das Album als homogene Einheit zu gefährden. Mit "Empty Room" brettert sich die Band durch Dreampop mit Hallbreitseiten, um bei "City With No Children" nicht nur für ihre Verhältnisse erstaunlich konventionell zu klingen.

"Month Of May" erinnert an die Queens Of The Stone Age, und sogar das von Chassagne gesungene "Sprawl II (Mountains Beyond Mountains)", das für seinen zuckersüßen Retropop bereits Vergleiche mit Abba hinnehmen musste, funktioniert letztlich.

Zuflucht im Eskapismus


Dazwischen verdichtet Butler die Ambivalenz jugendlicher Einsamkeit ("When I’m by myself / I can be myself / And my life is coming / But I don’t know when"), erschrickt vor der Entfremdung ("All my old friends, they don’t know me now") und findet Zuflucht und Hoffnung in Liebe und nächtlichem Eskapismus: "Let’s go for a drive / See the town tonight / There’s nothing to do / But I don’t mind when I’m with you", heißt es in einem Schlüsselsong namens "Suburban War", bei dem Butlers Stimme doch tatsächlich an Meat Loaf erinnert.

Wie sehr diese Band aber noch immer synonym für Sehnsuchtsmusik steht, unterstreicht sie mit ihrem unbedingten Bekenntnis zur (antimodernistischen) Romantik. Am Ende ist ein Liebesbrief doch höher einzuschätzen als eine Facebook-Nachricht: "We Used To Wait!" Arcade Fire: The Suburbs. (Universal)

(Wiener Zeitung, 14./15.8.2010)

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