Donnerstag, Juni 23, 2011

Die Kunst der Entfesselung

Eine Herzensangelegenheit: Arcade Fire gastierten im burgenländischen Wiesen.

Diese Band würde selbst das Bierzelt der Rieder Messe mit großer Würde bespielen. Am inmitten der pannonischen Sanfthügel gelegenen Open-Air-Areal in Wiesen, wohin am Mittwoch 8000 Fans pilgerten, hatten Arcade Fire ein vergleichsweise leichtes Spiel. Auch dank gemeinsamer Auftritte mit U2 und Bruce Springsteen ist die Band längst im Stadion angekommen, wo sie sich zwar reichlich Routine erarbeitete. Wie man in Wiesen aber erleben durfte, entstand daraus kein Schaden. Diese Band lebt ihre Arbeit.

Wir haben es bei Arcade Fire mit der wichtigsten Band der Nullerjahre zu tun. 2002 in Montreal gegründet, schöpfte das achtköpfige Kollektiv um das Ehepaar Win Butler und Régine Chassagne auf seinem Debütalbum „Funeral“ Kraft aus der Schwere. Mit melancholischen, dabei aber druckvoll rasselnden Songs wurde die längst in der Realität gestrandete Weltjugend zum Tanz gebeten. Entfesselungshymnen, Befreiungslieder: Die Energie, die Arcade Fire mit folkinfiziertem Indie-Rock freisetzten, war nichts weniger als kathartisch.

Geschichten aus Suburbia

Den theatralischen Grundgestus der Band unterstreichend, führte „Neon Bible“ 2007 die Reise pessimistischer fort. Mit „The Suburbs“ schließlich nahm die Band im Vorjahr konventionellere Züge an. Bei den Grammy Awards reüssierten Arcade Fire in der Kategorie Album des Jahres gegen Lady Gaga. Die Unterscheidung zwischen Underground und Mainstream, heute auch nicht mehr, was sie einmal war, definierte den Begriff Indie als ehr- wie verkaufbare Größe.

„The Suburbs“, ein unbedingtes Lebenszeichen des oft als obsolet abgekanzelten Albumformats, fischte im Mythensee der US-Suburbia. Die von Spike Jonze dafür eingefangenen Bilder flimmerten auch in Wiesen über die Leinwand: Tollende Kinder, streunende Jugendliche. Erste Küsse und alles, was sonst noch die Welt bedeutet in einer Welt abseits der greifbar nahen und gerade deshalb so weit entfernten Großstadt.

Arcade Fire begannen mit „Ready To Start“, dessen bittersüße Keyboards auf eine im Sinne Martin Gores klassische Weise ertönten. Aus einer ähnlichen Ecke stammt „We Used To Wait“, bei dem sich Win Butler aus der Echtzeit hinfort und in eine Welt zurückwünscht, in der zwischenmenschliche Nachrichten abseits sozialer Netzwerke noch heiligen Schriften gleichkamen. Das funktionierte ebenso prächtig wie das näher an Neil Young gebaute Titelstück des aktuellen Albums oder die ersten Hits im Set: „Keep The Car Running“, „No Cars Go“.

Dazu untermauerte die Band ihre Arbeitsweise als Kollektiv aus Multiinstrumentalisten: Win Butler wechselte von der Gitarre zur Mandoline zum Klavier. Chassagne trommelte und steuerte Keyboards oder Akkordeon bei. William Butler unterstrich mit emphatischem Gebaren hinter seiner Schaltkanzel wiederum, wie sehr die Band live in ihre Kunst eintaucht.

Angenehm maulfaul

Dass auch bei Arcade Fire nicht immer alles aufgeht – geschenkt. Eine wenig druckvolle Version des mit seiner Kirchenorgel grundsätzlich mächtigen „Intervention“ zeugte ebenso davon wie das punkistische „Month Of May“. Während Win Butler angenehm maulfaul nur darüber informierte, dass ihn sein erster Europatrip einst nach Wiesen führte oder ein Euro je Konzertkarte für den Wiederaufbau Haitis verwendet wird, fand der Auftritt seinen Höhepunkt unmittelbar vor den Zugaben.

Mit den von zackigem Post-Punk-Schlagzeug, himmelhochjauchzenden Melodiebögen und innigen Umarmungschören getragenen Songs „Neighbourhood #3 (Power Out)“ und „Rebellion (Lies)“ demonstrierte die Band ihre Ausnahmestellung, um sich selbst aber auch in einer Hinsicht zu widersprechen: „Sleeping is giving in. No matter what the time is.“ Nach eineinhalb Stunden hätte es noch ewig dauern können. Die Menge strahlte.

(Wiener Zeitung, 24.6.2011)

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