Freitag, Juli 22, 2011

Songs zwischen Halt und Abgrund

Martin Gore wird am 23. Juli 50 Jahre alt: Erinnerungen an eine Pop-Sozialisation mit dem Songwriter, Keyboarder und Mastermind von Depeche Mode.

Am 31. Juli des Jahres 2001 nahm sich mein Vater das Leben. An den Restsommer erinnere ich mich dunkel, in jedem Fall aber schlecht.

Kurz vor dem Begräbnis hörte ich erstmals Martin Gores Demoversion von „Enjoy The Silence“, einem jener Songs, mit denen sich Depeche Mode in die Popgeschichte eintragen sollten. Die Notiz, die sich Gore für die Studiosessions machte, war für ihn ungewohnt reduziert. Sämtliche Arrangements fehlten; allein an seinem Keyboard, das, wie ich es mir vorstellte, in seinem Keller ein Gerät unter vielen sein musste, sang Gore mit seiner charismatischen Stimme zu traurigen Mollakkorden von der Bedeutungslosigkeit aller Worte, die am Ende nichts anderes anrichten würden als Schaden: „Words are very unnecessary / they can only do harm.“

Wenige Tage, nachdem ich mit den Worten aufgeweckt wurde, dass „etwas Schreckliches passiert“ sei, drang der ästhetische Weltschmerz Martin Gores in seiner reinsten Form zu mir vor. „Words like violence / break the silence / come crashing in / into my little world.“ Die kleine Welt, sie war nicht mehr. Pop, der als Lebensbegleitungsangebot die Erinnerung und ihren Anlass für immer mit Songs verknüpft, hatte sein Werk verrichtet. Wenn ich an den Sommer 2001 denke, denke ich, abgesehen vom Geruch frischer Schnittblumen, den ich lange Zeit nicht ertragen konnte, an Martin Gores Homedemo von „Enjoy The Silence“.

Warum ich mich vor dem 31. Juli bereits auf das Ende des Sommers gefreut hatte, stand ebenfalls im Zusammenhang mit Depeche Mode. Zum Auftakt des Maturajahres im Herbst, das mich nach Wien und, wie ich es damals bereits mit mir selbst, die Welt es sich allerdings noch nicht mit mir ausgemacht hatte, auch beruflich in Richtung Pop bringen sollte, spielten Depeche Mode in der hiesigen Stadthalle. Bereits vor Monaten hatte ich mit Freund B. Karten gekauft. Am Tag vor dem Auftritt überwand ich meine jugendliche Schüchternheit, um live im Radio ein Meet-and-Greet mit der Band zu gewinnen. Ich scheiterte an meinem wesentlich älteren Mitspieler und der letzten Frage, die sich um die Vorbands von Depeche Mode bei ihrem Konzert vom 18. Juni 1988 im Rose-Bowl-Stadion in Pasadena drehte. Mit siebzehn hat man noch Träume. Bei mir war es der nun zum Scheitern verurteilte, Martin Gore zu begegnen, um ihm nur eines zu sagen: „Thank you!“

Wenige Stunden, bevor am Folgetag das Konzert beginnen sollte, beobachteten Freund B. und ich im Fernsehen, wie ein Flugzeug in das World Trade Center flog, bis später beide Gebäudetürme in sich zusammenbrachen. Der Wunsch, dass Depeche Mode dennoch spielen würden, war mir ebenso peinlich wie nicht von der Hand zu weisen. Als die Band später auftrat, war alles so seltsam, dass es auf eine groteske Weise ganz schrecklich zu diesem kaputten Jahr passen sollte.

Vier Jahre zuvor, wir schrieben das Jahr 1997, stieß ich auf Depeche Mode. Sie waren es, die mir das Erweckungserlebnis bescherten und mich der Popkultur auslieferten. Nach dem Erstkonsum ihres gerade erschienenen Albums „Ultra“ hatten die Suchtrezeptoren angeschlagen und Depeche Mode mich mit ihrer vielleicht untypischsten Arbeit in ihren Fanzirkel eingemeindet.

Mit dem Synthie-Pop, dem man der Band unterstellte, hatte „Ultra“ nichts mehr zu tun. Produziert von Tim Simenon, eingespielt unter anderem mithilfe des Can-Schlagzeugers Jaki Liebezeit, wurden die Songs von einem organischen, doch kalten Sound geprägt. Und obwohl es offensichtlich war, dass die Band mehr war als die Summe ihrer einzelnen Teile, sie ohne Sänger Dave Gahan nicht existieren könnte, begann mich vor allem Martin Gore als stiller Fädenzieher im Hintergrund zu interessieren, als Mastermind, auf den diese Götternummern zurückgingen. Die Essenz Martin Gores liegt, wie ich später herausfinden sollte, mit „Home“ und „Sister Of Night“ zwischen zwei Liedern dieses Albums: Im Verlangen nach nächtlichen Versuchungen und der Sehnsucht nach einem Zuhause im echten Leben findet Gore seine Themen, die den Raum zwischen Halt und Abgrund erkunden.

In den folgenden beiden Jahren sparte ich mir das Geld für sämtliche Alben der Band vom Taschengeld ab. Ich ging beim Kauf weitestgehend chronologisch vor und trug alle Informationen zusammen, die – mühsam! – zu finden waren. Das Internet war in Oberösterreich 1997 zeitweilig zwar bereits in die Pausenhalle, noch nicht aber in die Kinderzimmer vorgedrungen. Das langsame Kennenlernen schärfte den Blick und ließ Zeit für Details. Ich lernte Martin Gore als den britischen „lad“ kennen, der sich vom biederen Job in der Bank hinwegwünschte und hinter dem Keyboard einen Zufluchtsort fand. Ich lernte ihn, den nach dem raschen Ausstieg Vince Clarkes aus der Band mit den Songwriting-Agenden Betrauten als jemanden kennen, der sich erst von der naiven Kunst der New Romantics emanzipieren und einen Bogen um (gesellschafts-)politische Entgleisungen mit Hang zur Moralinsäure („People Are People“, „New Dress“) machen musste, um mit sich selbst ins Reine zu kommen.

Die Einbettung Depeche Modes in Wave-/Gothic-Kreise war mir weitestgehend egal, ebenso wie Gores Privatleben, über das er ohnehin kaum ein Wort verlor. Als Gore 2009 in Interviews plötzlich darüber plauderte, dass er mit dem Trinken aufgehört hätte, wusste eigentlich niemand, dass Gore ein Problem gehabt hatte – trotz seiner gut dokumentierten Vorliebe für Weißbier und seines Rufs als Partytiger, über den auch Rocko Schamoni in seinem Roman „Sternstunden der Bedeutungslosigkeit“ eine Anekdote zu erzählen hatte.

Gore erschloss sich mir durch sein Werk, das vor allem zwischen 1986 und 1997 einer Schatztruhe gleichkommt. Ich verfolgte, wie er in Westberlin die schwarze Romantik („Black Celebration“) auslotete, mit „Violator“ eine Weihestunde des elektronischen Pop feierte und auf „Songs Of Faith And Devotion“ gitarrenlastiger auch seine Liebe zur schwarzen Musik anklingen ließ. Man sieht es nicht, aber man kann es hören, dass der ewige Blondschopf, der privat als profunder Blues-Kenner gilt, der Sohn eines afroamerikanischen Vaters ist. Aber auch darüber wird Martin Gore nichts weiter erzählen.

Ebenfalls im Jahr 2001, es war im Frühling, führte uns ein Schulausflug nach Berlin. Wo Gore mit „Black Celebration“ einst ein Meisterwerk einspielte, stellte man gerade „Exciter“ in die Regale, das Freund B. und mir den Ticketkauf für den 11. September erheblich erschwerte. Nicht, dass das Album schlecht gewesen wäre. Was „Die Welt“ 2009 über „Sounds Of The Universe“ festhielt, sollte aber vor allem auf diese Phase zutreffen, in der Gore gegen eine Schreibblockade zu kämpfen hatte: „Früher haben Depeche Mode den Hörer überwältigt, heute wird er überredet.“

Im Dickicht an Lebensliedern, mit denen mich bis heute zahlreiche Künstlerinnen und Künstler beschenkten, sind Gores Beiträge die Felsen in der Brandung – ganz abgesehen von nostalgischen Anfällen und den auch guten Erinnerungen, die mit ihnen einhergehen.

Es muss nicht immer das Demo von „Enjoy The Silence“ sein. Alles Gute – und danke, danke, Martin Gore!

(Wiener Zeitung, 23./24.7.2011)

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