Samstag, Februar 17, 2018

Ein Schritt aus dem Schatten

Als Labelbetreiber hat Richard Russell nicht nur Adele entdeckt. Nun veröffentlicht er (wieder) eigene Musik.

Eine erste Veröffentlichung als Musiker wäre eigentlich nicht unerfolgreich gewesen. Als die eine Hälfte des Duos Kicks Like A Mule stieß Richard Russell im fernen Jahr 1992 mit der Single "The Bouncer", einem Rave-Track um die hier wiederholten alten Türstehersätze "Your name’s not down. You’re not coming in. Not tonight. You’re not on the list", immerhin bis auf Platz sieben der britischen Charts vor. Ebenso wie sein Kompagnon Nick Halkes, der sich heute als Artist Manager verdingt, war aber auch der 1971 in Dollis Hill im Nordwesten Londons geborene Russell damals bereits als Gründer und Betreiber des renommierten Independent-Labels XL Recordings aktiv, mit dem er bis heute als Instanz im Geschäft gilt.

Geschicktes Händchen

Wahrscheinlich waren auch die gescheiterten Aufnahmen eines Debütalbums mit Kicks Like A Mule dafür verantwortlich, jedenfalls: Sein Renommee erarbeitete sich der Vater dreier Kinder im Hintergrund als Verantwortlicher und Ermöglicher, über dessen Industriekonventionen trotzenden Arbeitsstil auch als konträr eingeschätzte Musikertypen gleichlautend Positives berichten.

Immerhin gilt Russell als Mann, der nicht nur Acts wie The Prodigy zu Erfolg verhalf, was im konkreten Fall einen Schulterschluss aus Rave-Nachwehen und dem gewöhnlicheren Bandformat mit einmal Rock-Formalismus extra bedeutete. Neben Platten- oder Distributionsverträgen mit Alternative-Acts wie Radiohead und deren Chef Thom Yorke als Solokünstler, der britisch-tamilischen Musikerin M.I.A., dem Afropop-Hit Vampire Weekend oder auch den White Stripes hat sich Russell auch wiederholt mit Damon Albarn (Blur, Gorillaz) zusammengetan, dessen 2014 erschienenes Solodebüt "Everyday Robots" er etwa co-produzierte.

In seiner Phase als (wieder) aktiver Soundregisseur ab 2010 verhalf er außerdem den großen alten Soulmännern Gil Scott-Heron und Bobby Womack zu breitenwirksamen Comebacks kurz vor ihrem Tod. Und er bewies als Entdecker von Adele, die er umgehend unter Vertrag nahm, auch ein geschicktes Händchen für den Pop-Mainstream - oder zumindest für jene Form davon, die Substanz genug enthält, um ihretwegen keine allumfassenden Sell-out-Vorwürfe zu erhalten. Nicht zuletzt mit Adele wird es vermutlich dann aber trotzdem zu tun haben, dass Russell seit einem Ranking der "Sunday Times" von 2015 als 85 Millionen Euro schwer gilt. Mit Arca wiederum luchste Russell zuletzt ausgerechnet den Kollegen von Mute Records einen Avantgarde-Künstler ab, dessen Sound mit seiner Arbeit für Björk heute auch einen anderen großen Namen künstlerisch maßgeblich prägt.

Dass unter dem Projekt- und Albumnamen "Everything Is Recorded By Richard Russell" (XL Recordings) nun auch wieder neue eigene Musik vorliegt, hat vor allem damit zu tun, dass Russell sich vor wenigen Jahren weitgehend aus dem operativen Tagesgeschäft seines Labels zurückgezogen hat, um heute wieder eigenen kreativen Gelüsten zu frönen. Dafür werden allwöchentlich zu losen Jamsessions Gäste ins Heimstudio geladen, die sich auf den zwölf nun gebündelten Stücken als gute Freunde und neue Bekanntschaften offenbaren.
Mit dabei sind neben noch dienstjungen Acts wie Soulsänger Sampha oder den Ibeyi-Zwillingen, deren zwei bisher erschienene Alben Russell produzierte, auch der Jazz-Saxofonist Kamasi Washington, Scritti-Politti-Mann Green Gartside, Rapper Giggs - oder, für einen nicht wirklich vernehmbaren Kurzauftritt, laut Credits auch Peter Gabriel. Mit Stimmsamples und Durchhalteparolen wie "You are not alone in the battle. You are not alone in the struggle!" ist hingegen der US-Prediger T. D. Jakes ungleich prominenter vertreten. Das kommt nicht von ungefähr: Wie Russell in aktuellen Interviews erklärt, bezieht sich der Titel "Everything Is Recorded . . ." weniger auf den (technischen) Aufnahmeprozess im Studio, sondern vielmehr auf Lebenserfahrungen, die vor dem Tod angeblich als Film vor dem geistigen Auge ablaufen. Eine Autoimmunerkrankung und die Entdeckung der eigenen Hinfälligkeit sind dafür verantwortlich, dass Russells Arbeit nun auch einen spirituellen Anhauch mit etwas Trost und jeder Menge Nachdenklichkeit verbindet.

Mensch und Maschine

Entstanden ist ein klassisches Produzentenalbum, das die Fingerfertigkeit des demnächst 47-Jährigen in Sachen verspielt-experimentelle Elektronik und - über eingestreute Samples - seine Vorliebe für 70er-Jahre-Soul und etwas Dub-Reggae widerspiegelt und gerne auch Einflüsse aus (Chicago-)House, Trip-Hop, Rap und Londoner Bassmusiken mitnimmt.

Collagierte Soundscapes stoßen auf organische Elemente, Curtis Mayfield taucht als stimmlicher Untoter aus dem Musikarchiv auf. Dass es trotz toller, abgedunkelt-groovender Tracks wie etwa "Wet Looking Road" im Falle des Titelstücks aber auch zu etwas Gefühlsduselei am Rande zum Kitsch kommen darf, übersetzt wiederum die Arbeitsweise und den Sound dieses Projekts: Hier trifft die Maschine immer auch auf den Faktor Mensch.

(Wiener Zeitung, 17.2.2018)

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