Freitag, April 28, 2023

Cyborg-Punk und Schmerz-Messen

Ab heute, Freitag, findet in Krems an zwei Wochenenden wieder das Donaufestival statt.

Geht es nach dem Donaufestival, ist das Anthropozän schon wieder vorbei. Das Zeitalter, in dem die Menschheit den geophysikalischen Haupteinfluss auf den Heimatplaneten, unsere schützenswerte Mutter Erde, ausübt, sei demnach bereits durch das Alienozän abgelöst. Zumindest beruft sich Festival-Intendant Thomas Edlinger auf den französischen Philosophen Fréderic Neyrat, der diese These vertritt – und leitet für den aktuellen Jahrgang der Kremser Veranstaltungsreihe daraus das Motto „Beyond Human“ ab. Auch der Mensch als solcher ist angesichts des Fortschritts neuer künstlicher Intelligenzen vielleicht ja schon demnächst überholt und schwebt dann irgendwo nur mehr als Upload aus längst vergangenen Zeiten durch den Äther.

„Internet der Tiere“

Alienation, ins Deutsche als Entfremdung übersetzt, war im Pop von jeher ein möglicher Ausdruck. Spätestens im Post-Punk wurde er in den zu Ende gehenden 1970er Jahren aber zum bestimmenden Gefühl. Isolation wider eine kalte, zunehmend als Bedrohung wahrgenommene (Außen-)Welt stand auf dem Programm. Das Alienozän ist diverse Evolutionsschritte weiter. „Es widmet sich den Begegnungen des Humanen mit dem Inhumanen und sympathisiert mit Aliens aus dem All und Exilant*innen auf unserem Planeten.“ Das Donaufestival verweist diesbezüglich auch auf das „Internet der Tiere“ und in Zeiten der Klimakrise nicht zuletzt auf „denkende Wälder“. Flüsse, Seen und Pflanzen, endlich auch als juristische Personen verstanden.

Ob das Sympathisieren mit der Tech-Revolution hingegen gelingen kann, muss erst entschieden werden. Dass einem die Welt fremd und undurchschaubar erscheint, ist längst keine Frage des Alters mehr. Der Weg zum humanoiden Hybrid führt immer auch durch ein Tal der Tränen, das Uncanny Valley heißt.

Das Donaufestival widmet sich diesen Ideen heuer wieder an zwei langen Wochenenden mit je drei Veranstaltungstagen. Wie gewohnt stellt ein dichtes Programm zwischen Kunst, Talks und Film sowie vor allem Performance die Hauptspielwiese dafür bereit. Aber auch das musikalische Line-up spiegelt die inhaltliche Großwetterlage – oder liefert zumindest den Soundtrack dafür.

Elegie und Katharsis

Heute, Freitag, geht es mit Godflesh los. Die 1988 in Birmingham gegründete Band rückt mit ihrem Industrial Metal gegen das Publikum vor: „Don’t hold me back, this is my own hell!“ Big Brave aus Montreal (aktuelles Album: „Nature Morte“) arbeiten zwischen Elegie, Katharsis und tiefergestimmten Gitarren, die britische Produzentin Petronn Sphene wiederum entführt in die Parallelwelt des queeren Cyborg-Punks. Am Samstag (29.4.) holen Silvia Tarozzi und Deborah Walker alte italienische Arbeiterinnenlieder ins Heute, das heimische Multitalent Lukas König bringt sein kollaboratives neues Projekt 1 Above Minus Underground zur Uraufführung und der mittlerweile in Berlin ansässige US-Rapper und Produzent Zebra Katz schickt mächtige Beats durch die Boxen. Zu Ende geht das erste Wochenende am Sonntag (30.4.) mit James Holden und den spirituellen Tönen seines programmatischen Albums „Imagine This Is A High Dimensional Space Of All Possibilities“, der aus Singapur stammenden „Glitch Princess“ Yeule und ihrem postmodernen (Hyper-)Pop sowie dem ehemaligen syrischen Hochzeitssänger und nunmehrigen Donaufestival-Stammgast Omar Souleyman.

Starke Nerven sind am Freitag (5.5.) für die Schmerz-Messe der dänischen Produzentin und Sängerin Puce Mary gefragt, bevor die Britin Nwando Ebizie mit dem lebendigen Afrofuturismus ihres Albums „The Swan“ wieder das Licht aufdreht und ihre Landsfrau Debby Friday sich in Erinnerung an alte Lagerhallenraves im Stroboskopgewitter entfesselt.

Durch Mark und Bein geht es am Samstag (6.5.) mit der japanischen Grenzlandsängerin Hiromi Moritani alias Phew und der samt Kirchenorgel auffahrenden Traumatherapie der US-Musikerin Kristin Hayter alias Lingua Ignota: Musik als Ringkampf mit Dämonen.

Ruhiger fällt dann das Finale am Sonntag (7.5.) im Klangraum Krems in der ehemaligen Minoritenkirche aus. Als Hauptattraktion kann man dort die pakistanischstämmige Musikerin Arooj Aftab erleben, die vor zwei Jahren mit ihrer Trauermeditation „Vulture Prince“ überwältigte und sich auch am Donaufestival im Trio mit Vijay Iyer (Klavier) und Shahzad Ismaily (Bass) zwischen Jazz und Sufi-Mystik bewegt.

(Wiener Zeitung, 28.4.2023) 

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