Samstag, April 01, 2023

Meditationen im Schmerz

Der 73-jährige US-Künstler und Musiker Lonnie Holley und sein bewegendes neues Album „Oh Me Oh My“.

Für ein beklemmendes Stück wie „Mount Meigs“ müssen alle Beteiligten sehr stark sein. Zu einem dräuenden Crescendo mit wuchtigem Schlagzeug, unwirtlichen Gitarren, etwas, das sich anhört wie ein permanentes Eindreschen auf einen Boxsack sowie Streichern mit Trauerflor erzählt Lonnie Holley darin über seine Zeit in der berüchtigten Alabama Industrial School For Negro Children. In der sogenannten „Besserungsanstalt“ für afroamerikanische Kinder und Jugendliche aus mittellosen Familien wurden früher reihenweise Seelen gebrochen.

Lonnie Holley berichtet über physischen wie psychischen Missbrauch, sexuelle Gewalt – und darüber, wie es sich als Straßenkind anfühlt, auch noch seine Würde zu verlieren. „Thinking that I was the most stupidest child that walked the earth (. . .) / They beat the curiosity out of me / They whooped it / They knocked it / They banged it / Slammed it / Damned it!“ Dazu dann wieder der „Boxsack“: Musik als Grenzerfahrung.

Ein Spätberufener

Lonnie Holley wurde am 10. Februar 1950 als siebentes von 27 Kindern in Birmingham, Alabama, im Südosten der USA geboren, als Vierjähriger von seiner Mutter für eine Flasche Whiskey verkauft und im Anschluss von Pflegefamilie zu Pflegefamilie und von Heim zu Heim weitergereicht. Neben seiner Zeit in Mount Meigs sind Jobs als Totengräber und Baumwollpflücker dokumentiert.

Zur bildenden Kunst kam Holley, als er 1979 Grabsteine für die bei einem Hausbrand ums Leben gekommenen Kinder seiner Schwester gestalten musste. Neben seinen Skulpturen aus Alltagsgegenständen und Müll fand er in den 1980er Jahren auch zur Malerei. Sein als Hauptwirkungsstätte genützter und der Öffentlichkeit zugänglicher Garten mit Tausenden Arbeiten wiederum fiel im Jahr 1997 dem Ausbau des Birmingham International Airport zum Opfer – nach einem Rechtsstreit zumindest gegen finanzielle Entschädigung. Auf europäischem Boden sind Lonnie Holleys Werke im Rahmen der Ausstellung „Souls Grown Deep Like The Rivers“ derzeit übrigens in der Royal Academy in London zu sehen.

Den Weg zur Musik fand Holley als Spätberufener erst im Jahr 2012. Sein in geringer Auflage veröffentlichtes Debütalbum „Just Before Music“ und der Nachfolger „Keeping A Record Of It“ im Folgejahr ließen das renommierte Independent-Label Jagjaguwar auf ihn aufmerksam werden. Mit diesem als neuem Partner gelang 2018 mit den zehn zwischen Spoken Word und Jazz mäandernden Stücken des Albums „MITH“ eine Art kleiner Durchbruch. Stücke wie „I’m A Suspect“, „I Snuck Off The Slave Ship“ und vor allem die nachdrückliche Free-Jazz-Litanei „I Woke Up In A Fucked-Up America“ spiegelten Holleys autobiografische Erfahrungen von seinerzeit vor dem Hintergrund des wiedererstarkten Rassismus in seiner Heimat – und darüber hinaus.

Nach der 2021 erschienenen Gemeinschaftsarbeit „Broken Mirror: A Selfie Reflection“ mit Matthew E. White hat der große Individualist nun Anfang März sein jüngstes Meisterwerk vorgelegt. Für „Oh Me Oh My“ erhielt der mittlerweile 73-Jährige mit der markanten Zitterstimme weitere prominente Unterstützung. Neben dem ansonsten mit Namen wie Taylor Swift, Snow Patrol oder Robbie Williams verbundenen Produzenten Jacknife Lee sind Gastimmen wie Michael Stipe (das Titelstück), Indie-Chorknabe Justin Vernon alias Bon Iver (für das tröstliche „Kindness Will Follow Your Tears“) oder Soundpoetin Moor Mother (im mit perkussivem Groove Naturnähe und Ahnengedenken vereinenden „Earth Will Be There“) zu erwähnen.

Friedliche Note

Gemeinsam mit diesen oder als Solist zwischen Erzählvortrag und hängeringendem Gesang wechseln Ambient-Meditationen im Schmerz mit autobiografischen Klageliedern und Song gewordenen Skulpturen, die auch Installationen sein könnten. Anders als man es aufgrund diverser von Lonnie Holley bereits in der Kindheit angesammelten Traumata und bei Stücken über Gewalt an entrechteten Erntehelfern („Better Get That Crop In Soon“) vermuten könnte, wird das Album aber zu keinem Zeugnis von Resignation oder Bitterkeit. Lebensweise und zutiefst empathisch in seinen Texten, verströmen Höhepunkte wie „If We Get Lost They Will Find Us“ gemeinsam mit der malischen Sängerin Rokia Koné stattdessen eine friedliche Note. Liebe wird aus Mut gemacht.

Zutiefst bewegt ist man aber auch nach Lonnie Holleys Brandrede für Gemeinschaftlichkeit im sphärischen „I Can’t Hush“ und nicht zuletzt nach dem bezeichnenden „None Of Us Have But A Little While“, bei dem die US-Songwriterin Sharon Van Etten als ätherische Engelsstimme aus dem Hintergrund ins Zwischenreich lockt. Den Trost, den Lonnie Holley dabei in der Endlichkeit findet und ohne Umwege auf die Hörerschaft überträgt, lässt einen tatsächlich sprachlos und überwältigt zurück. Gänsehaut pur.

(Wiener Zeitung, 1./2.4.2023)

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