Montag, April 03, 2023

Es ist der Sänger, nicht der Song

Marc Almond begeisterte zum Abschluss seiner Europatour live im Wiener Volkstheater.

Bis zu den Standing Ovations dauert es noch ein wenig, als es das Publikum gleich zu Konzertbeginn für einen Moment aus den Sesseln hebt. Schuld daran ist allerdings nicht, dass Marc Almond für den Abschluss einer kleinen Europatour am Sonntagabend im Wiener Volkstheater die Setlist noch einmal umgebaut hat und mit „The Stars We Are“ aus dem gleichnamigen Album von 1989 gleich einmal mit einem Hit loslegt.

Tatsächlich wird man schon bei den ersten Akkorden daran erinnert, dass man noch kurz davor in der Garderobe nur müde über die dort aufgelegten Gratis-Ohrstöpsel gelächelt hat. Donnerwetter! Jetzt aber gibt die von einem Gesangsduo unterstützte vierköpfige Band eine Lautstärke vor, die den handelsüblichen Pegel eines Sitzkonzertes in gediegenem Rahmen dann doch um ein paar Dezibel übersteigt.

Drama, Baby, Drama!

Marc Almond selbst erscheint mit Lesebrille und Schal, um einen seiner später noch selbstironisch vorgestellten „Magical Dances“ durchzuführen und mit ausladenden Armbewegungen an die alte Schule aus dem Milieu der großen Pop-Tragöden, Schlagerstars und Bühnendiven zu erinnern. Selbstverständlich hat man es diesbezüglich aber nur mit einer kleinen Aufwärmrunde zu tun. Die wegweisenden, Demut vortäuschenden, aber in Wirklichkeit „Ja, ich weiß“ in die Welt schreienden Gesten am Ende mit dem 65-Jährigen und einem wirklich sehr großen Strauß roter Rosen führen uns nostalgisch zurück in ein Zeitalter, in dem auf den Bühnen der Welt noch Pathos angesagt war. Drama, Baby, Drama! Marc Almond kennt sich da aus.

Der gebürtige Brite wurde als Sänger des ursprünglich kurzlebigen, aber nachhaltig Einfluss ausübenden und seit dem Vorjahr mit dem im Grundton depressiv gestimmten, dabei aber beglückenden Comeback-Album „Happiness Not Included“ erneut wiedervereinten Synthie-Pop-Duos Soft Cell weltberühmt, dessen größten Hit „Tainted Love“ man im Zugabenblock noch nahe am Original hören wird. Zwar hätte sich Almond bereits mit dieser im Jahr 1981 veröffentlichten Coverversion eines obskuren Northern-Soul-Songs und dem dazugehörigen, konzeptuell im ranzigen Grenzland zwischen Darkroom und Pornokino angesiedelten Album „Non-Stop Erotic Cabaret“ in die Pop-Geschichte eingeschrieben.

Neben dem ersten Soft-Cell-Ableger Marc And The Mambas, dessen Song „Black Heart“ aus dem von Almond einmal als „auf Vinyl gepresster Selbstmordversuch“ bezeichneten Album „Torment And Toreros“ von 1983 im Volkstheater zu einem ersten Konzerthöhepunkt wird, hat sich der Mann aber auch in eine rastlose Solokarriere gestürzt, in der zwischen Jacques-Brel-Interpretationen, russischer Folklore, vertonter Lyrik, blutenden Torch-Songs mit 60er-Jahre-Hintergrund und jeder Menge Orchester- und Dance-Pop jederzeit alles möglich war. Es ist der Sänger, nicht der Song: Dabei wie vor allem auch live erweist sich, dass Marc Almond als Meister zwischen den Stilen ohnehin längst sein eigenes Genre ist.

Zur Kenntlichkeit entstellt

Als „Greatest Hits“-Konzert angekündigt, bleiben mit Almonds ikonischer Neuinterpretation von Gene Pitneys „Something’s Gotten Hold Of My Heart“, altem Edel-Pop im Zeichen gebrochener Herzen wie „Tears Run Rings“ oder „A Lover Spurned“ (Tour-Premiere!) sowie natürlich „Bedsitter“, Soft Cells Studie über die innere Leere nach exzessiven Nächten in Clubs, die damals noch Discos hießen, zwar keine Wünsche offen. Davor, dazwischen und danach steht mit Balladen wie „Hollywood Forever“ aus dem bisher letzten regulären Soloalbum „Chaos And A Dancing Star“ von 2020, dem Durchhaltesong „Golden Light“ von dessen Appendix „Things We Lost“ aus dem Vorjahr sowie dem mit Kontrabass gegebenen Beserljazz des Rod-McKuen-Covers „Trashy“ aber auch Unbekannteres und Rezenteres auf dem Programm.

Ergreifend nicht zuletzt, wie Marc Almond zwischendurch den Barsänger kurz vor der Sperrstunde gibt und dabei ausgerechnet den bei einem Gipfeltreffen Soft Cells mit den Pet Shop Boys eingespielten Dancefloor-Banger „Purple Zone“ solo mit Klavierbegleitung zur Kenntlichkeit entstellt: „Let’s get out of this life / I’m afraid and alone / Paralyzed in the purple zone.“

Augen können trocken bleiben – sie müssen es aber nicht. „Say Hello, Wave Goodbye“, ein letztes Bad in der Menge, dann der Auszug als Entertainer zwischen Luftbussi und Rosenregen: ein Mann, ein Abend – ein Triumph. 

(Wiener Zeitung, 4.4.2023)

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