Donnerstag, April 06, 2023

Ein Girl Crush als Musik

Die US-Supergroup Boygenius wird aktuell für ihr Debütalbum „The Record“ gefeiert.

Der Bandname ist natürlich ein Scherz. Selbstverständlich steckt hinter Boygenius weder ein „Bub“ noch ein Mann. Stattdessen setzt sich die Supergroup aus drei jungen Frauen zusammen, die entweder lesbisch, bi- oder pansexuell sind, die LGBTQIA+-Community von innen heraus unterstützen und den Mythos des sich kreativ abmühenden männlichen Großkünstlers in Angriff nehmen – um ihn durch ein Joint Venture im Zeichen weiblicher Kollaboration und Gemeinschaftlichkeit abzulösen.

Phoebe Bridgers, Julien Baker und Lucy Dacus fanden ab 2016 persönlich und zwei Jahre später auch kreativ und offiziell zueinander. Obwohl jede der zwischen 1994 und 1995 geborenen Sängerinnen und Songwriterinnen für sich bereits damals auf eine erfolgreiche Karriere im US-Indierock verweisen konnte, erwies sich die Chemie untereinander als zu gut, um sie nicht auch auf ein gemeinsames Musikprojekt zu übertragen. Es folgten eine erste, selbstbetitelte EP, eine Tour, diverse Soloalben – und Corona. Jetzt sind Boygenius wieder da und werden nicht nur von der US-Kritik als Band der Stunde gefeiert, die mit drei kreativ gleichberechtigten Role Models nicht zuletzt einee Zeitenwende symbolisieren soll: Die Schwanzfestspiele von seinerzeit sind jetzt Geschichte. Rock ’n’ Roll kann, soll, muss heute weiblich sein.

Ein Reenactment als Ansage

Nicht von ungefähr stellten Boygenius für die Titelseite des „Rolling Stone“ zur Vorabpromo ihres nun vorliegenden Debütalbums „The Record“ (Interscope/Universal Music) das ikonische Coverfoto Nirvanas aus dem Jahr 1994 nach: ein Reenactment als Ansage mit Anzug und Krawatte. Ein bisschen Angst darf man also bekommen, wenn man sich unter den zwölf in 42 Minuten gereichten Songs jenem nähert, der ausgerechnet den Titel „Leonard Cohen“ trägt. Glücklicherweise begehen Boygenius dabei aber kein Sakrileg und würdigen den Meister mit einem schelmischen Augenzwinkern, das ihm selbst gut gefallen hätte.

Nur zwei Wochen, nachdem sich auch Lana Del Rey auf ihrem aktuellen Album „Did You Know That There’s A Tunnel Under Ocean Blvd“ an der gleichen ikonischen Songzeile aus dem Song „Anthem“ von 1992 bedient hat, heißt es bei Boygenius ein bisschen frech, aber sehr treffend: „There’s a crack in everything, that’s how the light gets in / And I am not an old man having an existential crisis / At a Buddhist monastery writing horny poetry / But I agree.“ Es war nicht alles schlecht an alten weißen Männern: Immerhin wirft sich die Band bei „Cool About It“ auch vor Simon & Garfunkel in den Staub, wobei Paul Simon in den Albumcredits explizit auch als Inspiration ins Feld geführt wird. Für Indie-Gossip wiederum sorgt die Frage, wer mit dem zum Abschluss gereichten „Letter To An Old Poet“ und seinen Szenen einer toxischen Beziehung gemeint sein könnte. Ein Tipp wäre Ryan Adams, dem Phoebe Bridgers nach der Trennung in der „New York Times“ – wie sechs weitere Frauen auch – „emotionalen Missbrauch“ vorwarf.

Fest in Frauenhand

Am anderen Ende der Fahnenstange geht es zum Auftakt mit dem folklastigen A-cappella-Gesang von „Without You Without Them“ um Empathie und die Notwendigkeit, einander zuzuhören. Songs wie „True Blue“ (nicht der von Madonna!) oder das im Tonfall andächtige, mit akustischer Gitarre, zart aufgetragenen Klavierakkorden und herbstlich gestimmten Streichern arrangierte „We’re In Love“ beschwören die Freundschaft von Bridgers, Baker und Dacus zueinander – und kommen als Musik gewordener Girl Crush mit zart-zärtelndem Grundton daher.

Zwischen klassischem, an diversen Vorbildern aus den 1990er Jahren geschultem Indierock („$20“, „Satanist“), den erwähnten Folk-Anklängen und nicht zuletzt dem einnehmenden Harmoniegesang zu flächig-verträumten Stücken wie etwa „Emily I’m Sorry“ hört man schließlich bei „Not Strong Enough“ so etwas wie die Schlüsselzeile des Albums: „Always an angel / Never a God“ beschwört die im Popgeschäft lange gängige Geschlechterzuschreibung als Mantra.

Bleibt noch zu erwähnen, dass „The Record“ bis hin zur Musikvideoregie durch die Schauspielerin Kristen Stewart und Catherine Marks an den Studioreglern in allen Bereichen fest in Frauenhand ist. Hat sich an der Bühnenfront auch mittlerweile manches geändert, muss man nach weiblichen Fachkräften in Sachen Produktion und Tontechnik im klassischen Band-Setting nach wie vor mit der Lupe suchen.

(Wiener Zeitung, 7.4.2023)

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