Donnerstag, April 13, 2023

Feist: Unsere Sorgen möchte sie haben

Die kanadische Songwriterin meldet sich mit ihrem neuen Album „Multitudes“ zurück

Der auf dem Cover mit Leslie Feist in mehrfacher Spiegelung übersetzte Albumtitel „Multitudes“ erinnert gleich einmal an Bob Dylan. Der aber hat sich mit der fast auf den Tag vor drei Jahren veröffentlichten zweiten Single aus seinem bisher letzten Studioalbum „Rough And Rowdy Ways“ selbst auf Walt Whitman bezogen. Der große US-Dichter des 19. Jahrhunderts nahm eine zentrale Überlegung Leslie Feists in der Ich-bezogenen Selfiegegenwart des Jahres 2023 bereits 1855 vorweg. In seinem „Song Of Myself“ heißt es: „Do I contradict myself? Very well then I contradict myself, (I am large, I contain multitudes.)“

Wie es um die „Vielheiten“ Leslie Feists bestellt ist oder ob uns die kanadische Songwriterin und Sängerin mit dem Albumtitel nur auf eine falsche Fährte führt, wäre jetzt natürlich interessant. Jedenfalls legt sie auf ihrem ersten Album seit sechs Jahren im Song „In Lightning“ gleich einmal mit einem vertonten Plüschgewitter los, in dem sich nicht nur diverse Loops um wuchtig geklöppelte Drums und himmelwärts fahrende Stoßseufzer vereinen. Das Ganze klingt dann auch noch so elektronisch wie seit seinerzeit in den Nullerjahren nicht mehr – und eindeutig expressiver als so gut wie alles auf dem verhuschten Vorgänger „Pleasure“.

Ins Spekulieren

Leider muss man auf „Multitudes“ (Universal Music) dann, unterbrochen von einer kurzen Kontrolle der Armbanduhr und dem einen oder anderen Sekundenschlaf, sehr lange warten, bis es musikalisch ein zweites und letztes Mal ähnlich nachdrücklich wird. Mit „Borrow Trouble“ wird erst für Song Nummer neun die Stromgitarre aufgedreht, während die im Hintergrund sägenden Bratschen John Cales diesbezügliche Vorarbeit mit The Velvet Underground aus den 1960er Jahren spiegeln. Das ist hübsch, anders als im Original aber natürlich in keiner Sekunde gefährlich. Dazu philosophiert die heute 47-Jährige darüber, dass sich unsere Probleme meistens noch vor dem Aufstehen einstellen, weil man bereits in unruhigen Träumen ins Spekulieren gerät. Nur das aus einer alten Versicherungswerbung geborgte Angebot, uns unsere Sorgen auch gleich abzunehmen, ist dann doch etwas übertrieben. Leslie Feist kennt unsere Probleme ja gar nicht. Zu ihrem Glück.

Die ursprünglich in der Punkszene Calgarys sozialisierte und seit ihrem Umzug nach Toronto mit dem kanadischen Indie-Kollektiv Broken Social Scene verbandelte Musikerin wurde solo im Jahr 2004 mit ihrem zweiten Album „Let It Die“ bekannt. Darauf wie auch auf dem Nachfolger „The Reminder“ von 2007 war zwischen Folk-Traditionen, Jazz-Beigaben, Chanson-Nachwehen und der nötigen Dosis Soulfulness bei gleichzeitig in die Auslage gestellten Popsensibilitäten gefällig für den kleinsten gemeinsamen Nenner gesorgt. Zwischen iPod-Werbung, Krankenhausserien und Hipster-Cafés war die Musik von Leslie Feist plötzlich überall.

Asche zu Asche

Nach dem esoterisch angehauchten Selbstfindungsalbum „Metals“ (2011) und dem erwähnten „Pleasure“ folgte eine Phase des Rückzugs. Leslie Feist wurde Mutter einer Adoptivtochter und entkam dem harten kanadischen Winter mit einer Immobilieninvestition im sonnigen Los Angeles. Im Jahr 2021 schließlich hatte die Sängerin den Tod ihres Vaters zu beklagen, was uns dazu führt, dass der Kreislauf des Lebens unüberhörbar auch die zwölf neuen Songs bestimmt: „I’ve never begun a forever before“, heißt es etwa im introspektiven „Forever Before“, „Some people are gone and the people who stay / Will eventually go in a matter of days“ im verzagten „Become The Earth“. Asche zu Asche, Staub zu Staub.

Manchmal werden die im Kern von akustischen Zupfgitarren und zartem Hauchgesang getragenen Stücke mit wie Wolken aufziehenden Streichern zu Songgemälden erweitert, manchmal entführen schwebend-meditative Klangsphären ins Zwischenreich. In Fortsetzung des mit „Metals“ begonnenen Nature Writings ist bei Songs wie „The Redwing“ aber auch für akustische Vogelbeobachtung gesorgt, während sich Feist bei Stücken wie „Love Who We Are Meant To“ ein Orchester für kaum mehr als den Schlussakkord leistet.

Dass zahlreiche Lieder bis hin zu „Song For Sad Friends“ als finalem Trostspender so reduziert ausfallen, hat natürlich auch einen Grund. Nicht wenige davon dürften ihre Wurzeln als Eigengebrauchs-Lullabies haben. „Everybody’s got their shit / But who’s got the guts to sit with it?“ Ob man danach aber gut schlafen kann? Zumindest als Erwachsener kommt man dabei ja erst recht wieder ins Grübeln.

(Wiener Zeitung, 14.4.2023)

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