Freitag, April 14, 2023

Metallica: Nur schlechte Zeiten sind gute Zeiten

Die US-Band bietet auf ihrem neuen Album wieder viel Raum für negative Gefühle.

Das Cover zeigt es schon: Da hat jemand das Gitterbett durchbrochen und den Rock ’n’ Roll für sich entdeckt, um am Ende gleich das ganze Kinderzimmer in Schutt und Asche zu legen. Weniger als alles ist nichts. Nichts ist das Gegenteil von leiwand und die Entsprechung von oasch. Es sei denn, man reißt selbst alles ein und hinterlässt der Nachwelt nur eines, nämlich ein herrlich trauriges Stück verbrannter Erde.

Ma, he: Wenn du glaubst, es geht nicht mehr, kommt von irgendwo . . . ein neues Metallica-Album her. Die US-Band muss einen Song nicht „St. Rache“, pardon, sie muss einen Song natürlich nicht wie einst im Jahr 2003 „St. Anger“ nennen, um dieses spezielle Gefühl zu vermitteln, dass es jetzt gleich ein paar Watschen setzt. Dafür reicht es schon, wenn sich Sänger James Hetfield und Schlagzeuger Lars Ulrich wieder einmal die Klaus-Kinski-Gedenkmedaille für grimmiges Dreinschauen abholen, sobald irgendwo in ihrer Nähe eine Kamera auftaucht. Du Sau! Super Sache. Wenn man etwas braucht, das einem die Ohren durchputzt und dabei ein Druckablassventil für negative Gefühle bereitstellt, ist man bei Metallica seit mittlerweile 40 Jahren genau richtig.

Durch die Dunkelheit

Die Welt ist böse, die Menschen sind schlecht. Sie mögen sich jetzt bitte schleichen. Die Hölle, die immer die anderen sind, das ist man aber natürlich immer auch selbst. Man muss nur einmal durch die Dunkelheit und dann tief genug in sich hineinschauen. Dort lauert der Abgrund: „Screaming Suicide“, „Sleepwalk My Life Away“, „You Must Burn!“ oder „If Darkness Had A Son“, so haben Metallica einige der Songs ihres jetzt vorliegenden neuen Albums „72 Seasons“ (Blackened/Universal Music) genannt, um ein paar sehr negative Gefühle schon einmal auf dem Papier festzuhalten. Sind sie dort erst einmal gelandet, ist man sie zwar auch noch nicht los, man fühlt sich in seiner Misere aber zumindest ein bisschen weniger allein, weil jetzt auch die anderen darunter leiden.

Nur schlechte Zeiten sind gute Zeiten: Konsequenterweise hat die Band das Artwork von „72 Seasons“ schwarz-gelb gehalten. Die Farben der dreieckigen Schilder, die sonst vor Atommüll, Giftstoffen, Starkstrom oder Quetschgefahr – und jetzt eben vor Metallica – warnen, passen zu den zwölf in aufmerksamkeitsökonomisch waghalsigen 77 Minuten und zehn Sekunden gereichten Songs wie die Faust aufs Auge – oder wie Thors Hammer auf den Schädel: Immerhin biegt Lars Ulrich in „Lux Aeterna“ gerade mit einer Doublebassdrumattacke um die Ecke, die ganze Flaktürme versetzen könnte. Es ist ein wenig, wie man sich den Urknall vorstellt, an dessen Ende allerdings nicht die Erde, sondern ein überdimensionales Festivalareal mit angeschlossenem Bierzelt steht. Dort tauchen, sobald es finster wird, zu den Klängen von Ennio Morricones „The Ecstasy Of Gold“ Metallica auf und jagen die Triebkontrolle zum Teufel.

Mit James Hetfield auf die Couch

Wo aber das ewige Licht leuchtet, ist es bekanntlich besonders finster. Und wer schneller lebt, ist früher tot: Insofern wird die Formel „Full speed or nothing“ in „Lux Aeterna“, dem mit seinen 3 Minuten und 22 Sekunden mit Abstand kürzesten Song des Albums, in Richtung „Gas, Vollgas – Metallica“ gesteigert. Autobiografisch ging das schon ein paar Mal gerade noch gut. Immerhin wird auf „72 Seasons“ mit Stücken wie „Too Far Gone?“ oder „Shadows Follow“ auch James Hetfields letzte Entziehungskur verdaut.

Nach Thrash-Metal-Meisterwerken wie „Master Of Puppets“ (1986), dem Durchbruch in den Mainstream mit dem selbstbetitelten schwarzen Album von 1991, künstlerischen Selbstfindungsproblemen in der Phase um das erwähnte Album „St. Anger“ und Irrwegen wie der Wedekind-Adaption „Lulu“ gemeinsam mit Grantscherm Lou Reed (2011) zeigt sich die Band dabei endlich wieder in Form. Zwischen Stakkatoriff-Salven, auslandenden Schwurbelsolos, zahlreichen Selbstreferenzen und einer hübschen Annäherung an Black Sabbath im Falle der Machtdemonstration „You Must Burn!“ werden selbstverständlich keine Gefangenen gemacht.

„Would you criticize, scrutinize, analyze my pain? Would you summarize, patronize, classify insane?“: Bevor James Hetfield zum Abschluss mit „Inamorata“ seine Scheidung nach 25 Ehejahren aufarbeitet und sich dabei ausgerechnet Lenny Kravitz mit „Are You Gonna Go My Way“ aus dem Unterbewusstsein schält (das Gitarrenriff!), legt sich der 59-Jährige in „Room Of Mirrors“ zur Selbstbespiegelung dann auch noch auf die Psycho-Couch. „So I stand here before you / You might judge, you might just bury me / Or you might set me free . . .“

Die Diagnose von Dr. Freud steht fürs Erste noch aus, der Metallica-Fan hingegen hat sein Urteil bereits mit einem gutturalen Ausdruck der Freude gefällt: „Arrgh!“

(Wiener Zeitung, 14.4.2023)

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