Donnerstag, April 20, 2023

Heimlich tanzen mit Everything But The Girl

Die britische Band feiert ihr Comeback. „Fuse“ ist das erste Album des Duos nach 24 Jahren Veröffentlichungspause.

„And I miss you / Like the deserts miss the rain“: Einen Song wie „Missing“ schreibt man mit hoher Wahrscheinlichkeit entweder nie – oder mit viel Glück genau ein einziges Mal im Leben. Für die britische Band Everything But The Girl war es im Jahr 1994 so weit. Zeitgleich markierte ihr bis heute größter Hit auch den Wendepunkt ihrer Karriere.

Das Duo um Sängerin und Songwriterin Tracey Thorn und den Songwriter, Musiker und Produzenten Ben Watt formierte sich bereits im Jahr 1982. Nach einem Cover von Cole Porters „Night And Day“ als erster Single, dem 1984 erschienenen Debütalbum „Eden“ und Nachfolgearbeiten wie dem orchestrierten „Baby, The Stars Shine Bright“ von 1986 und dem Achtungserfolg „Idlewild“ zwei Jahre später wurde die Band einem losen Genre zugeordnet, das man damals „Sophisti-Pop“ nannte. Wobei neben den Jazz-affinen Settings Watts vor allem Tracey Thorns Stimme das Alleinstellungsmerkmal und der Herzschlag der Band war. Eine große, melancholische Stimme, die ihre Stärke nicht aus dem Nachdruck, sondern aus dem Understatement bezog.

Rückzug ins Private

Im Umfeld von Sade, mit der sich EBTG den Produzenten ihrer jeweiligen Debütalben (und das Studio) teilten, richtete es sich das Duo bewusst in der Nische ein. „Missing“ brachte neben dem finanziellen Segen dann auch den Druck, die Komfortzone zu verlassen. Zwei Jahre, nachdem Ben Watt beinahe an den Folgen einer Autoimmunerkrankung gestorben wäre, ließ sich die Band zum Glück nicht verbiegen, beschritt auf dem Album „Amplified Heart“ künstlerisch aber neue Wege.

Angefeuert durch den Erfolg von „Missing“ in der Remix-Version des New Yorker DJs Todd Terry, arbeiteten Everything But The Girl 1996 auf ihrem Bestseller „Walking Wounded“ sowie auf dem vorerst finalen Album „Temperamental“ zwischen Downtempo, Drum & Bass, House und Trip-Hop, was Thorn auch eine Rolle als Gastsängerin von Massive Attack einbrachte. Der gemeinsam entstandene Song „Protection“ etwa hat bis heute nichts an seiner Wirkung verloren.

1999 war dann Schluss. Watt und Thorn entschieden sich gegen die Doppelrolle aus „Popstars“ und frisch gebackenen Eltern gemeinsamer Zwillingstöchter – und für den Rückzug ins Private. Nach einer Auszeit kehrte Ben Watt zunächst als DJ zurück und wurde Club- und Labelbetreiber, ehe er ab 2014 auf drei Soloalben mit David Gilmour, Bernard Butler oder Marissa Nadler kollaborierte. Tracey Thorn überzeugte ab 2007 auf vier eigenen Alben, betätigte sich als Kolumnistin und berichtete in mittlerweile vier autobiografisch gehaltenen Büchern unter anderem über ihre Erfahrungen als Frau in der vor allem in den 1990er Jahren noch schwer männlich dominierten Musikindustrie.

Trost und Rat und Mut

Nach der Geburt eines Sohnes, einer späten Hochzeit im 28. Jahr ihrer Beziehung und sehr viel Bedenkzeit über ein mögliches Comeback knüpfen Everything But The Girl mit den zehn Songs ihres elften Albums „Fuse“ (Virgin Music) jetzt nahtlos dort an, wo sie 1999 aufgehört haben: Bereits die Auftaktsingle „Nothing Left To Lose“ präsentierte die Band vorsichtig modernisiert im gewohnten Spannungsfeld aus Popsong und Dancetrack.

„Kiss me while the world decays / Kiss me while the music plays“: Ein Breakbeat aus dem Drumcomputer und ein Zitterbass der Marke Dubstep konnten die gedämpfte Stimmung dabei nicht verleugnen. Wobei Tracey Thorn den Erzählungen aus den Leben einer popbegeisterten Generation der heute 60-Jährigen inklusive alltäglichem Ärger zwischen Mikroaggressionen von außen und dem inneren Gefühl, nicht (mehr) zu genügen, nicht nur bei nachdenklich-klaviergetragenen Stücken wie „When You Mess Up“ auch jede Menge Trost und Rat und Mut entgegensetzt. Ein bisschen weniger Strenge mit sich selbst sei demnach angebracht – und die Einstellung, zu jeder Uhrzeit ganz im Moment zu sein: „Run a red light / Forget the morning / This is tonight.“

Manchmal, wie im Abschlusssong „Karaoke“, sorgen dabei kleine Alltagsfluchten für Boomer-Freuden, wobei dann auch das Autorinnen-Ich von Tracey Thorn zur Hochform aufläuft. Und auch in „No One Knows We’re Dancing“ wird, mit heute dunklerer und tieferer, aber noch immer gewinnender Stimme, eine Stehparty am Sonntagnachmittag daheim hinter halb geschlossenen Jalousien und unter Beigabe von reichlich Gin Tonic sehr überzeugend geschildert.

Weitgehend minimalistisch produziert, mit einmaligem Rückgriff auf Autotune sowie einer Art Trap-Beat im Song „Time And Time Again“ als Zugeständnisse an den Zeitgeist, ist „Fuse“ kein Album, das mit der Tür ins Haus fällt, seine Qualitäten dafür aber umso nachhaltiger offenbart. Everything But The Girl sind wieder da – schön, dass sie wieder da sind.

(Wiener Zeitung, 21.4.2023)

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