Montag, Dezember 06, 2010

Im weiten Blickfeld der Voyeure

Das Publikum verlangt Sensationen, Sensationen verlangen Risiken – Was, wenn etwas passiert?

Dass die Showbranche zynisch ist, die medial vermittelte Wirklichkeit den voyeuristischen Blick schon immer bediente – wer würde es bezweifeln?

Während es in den 1990er Jahren also auch im deutschsprachigen Raum zum Trendsport wurde, sich durch den Konsum von zunehmend auf Trash gepolten Talkshows über die sogenannte Unterschicht (beziehungsweise das diffuse Bild, das die Privatsender von dieser zu zeichnen versuchten) zu erheben – die Hölle, das sind die anderen –, und sich der Big Brother ausgerechnet über die Niederungen des Container-TV zurück ins kollektive Gedächtnis brachte, ist man heute nicht nur dazu übergegangen, Popstar-sein-wollende Kinder in ihrer Trauer zu belächeln, wenn die Abwahl aus der Castingshow wieder einmal den Anfang vom Ende bedeutet. Geht es darum, das Hässliche, Gemeine und Archaische aus uns vom Alltag Frustrierten – und Abgestumpften! – zu kitzeln, war das Fernsehen schon immer ein vortreffliches Medium.

Die Möglichkeit eines Ausnahmezustandes


Vor allem vor dem Hintergrund einer erfolgsorientierten Leistungsgesellschaft, die Verlierer braucht, um sich selbst zu legitimieren, sind die sozialpornografischen Tendenzen des Fernsehens ebenso nötig, wie die Empörung darüber weitestgehend egal ist. Der den Medien eigene Hang zur Sensationalisierung findet in diesem System eine freiwillige Erweiterung sämtlicher Teilbereiche hin zum Extremen. Siehe dazu die Pole "höher", "schneller", "weiter", das Gesamtwerk des "Extremsportlers" Felix Baumgartner, das die Möglichkeit des Todes nicht nur nicht ausschließt, sondern bedingt, sowie die selbstverständliche Verfügbarkeit von Hardcore-Pornos über den Umweg nur eines Mausklicks, wo früher ein verschämter Blick auf buntes Papier nötig war: So ist die Welt, und wir wollen sie nicht anders.

All das miteinbedacht, ist das TV-Format "Wetten, dass.. ?" als letzte Bastion des Familienfernsehens, das nichts anderes will, als uns zu unterhalten, als zu zerstreuen und abzulenken von der Wirklichkeit des Lebens da draußen, und dabei in seiner Gleichförmigkeit seit bald drei Jahrzehnten sämtlichen "Extremisierungstendenzen" trotzt, das biedere Antlitz einer gestrigen Welt.

Wie die Quotenkrise der Sendung im Vorjahr zeigte, ist dieser Ansatz heute nur mehr bedingt wettbewerbsfähig. Nachdem die Live-Sendung am Samstag erstmals in ihrer Geschichte abgebrochen wurde, weil sich ein Wettkandidat schwer verletzte, wird die zynische Erkenntnis folgende sein: Das Wissen um die Möglichkeit eines Ausnahmezustandes, die Wieder-Gewahrmachung des sendungsimmanenten Gefahrenpotenzials wird dem Format zumindest vorübergehend zu mehr Quote verhelfen. Der Zynismus ist publikumsseitig, wie allein der richtige und pietätvolle Sendungsabbruch bewies. Oder der Umstand, dass in der Sendungsgeschichte ein Beinbruch der schlimmste Zwischenfall war. Bis Samstag.

Der von den Boulevardmedien angeheizte, kollektive gesellschaftliche Aufschrei – auch Kurt Beck, rheinland-pfälzischer Ministerpräsident und ZDF-Verwaltungsrats-Chef, problematisierte in einem Interview mit der Tageszeitung "Die Welt" bereits den Zusammenhang von "Nervenkitzel, Waghalsigkeit und Quote" – lässt vergessen, dass das Publikum Sensationen einfordert, diese aber mit Risken verbunden sind. Stichwort Doppelmoral. Oder anders formuliert: Wenn eine Wette gewonnen wird, indem ein Kandidat erfolgreich Salti über auf ihn zufahrende Pkw schlägt – wie kann der Wettverlust aussehen?

Umgelegt auf andere Teilbereiche, stellt sich die Frage: Warum waren Sendungen wie das auf höhere Bubendummheiten spezialisierte MTV-Format "Jackass" (und dessen Fortsetzungen im Kino) so erfolgreich? Warum sind die Quoten von Ski-Abfahrtsläufen generell höher als jene von Slalombewerben?

Begehrter Tod in der Suchmaschine

Eine Antwort darauf darf in folgendem Beispiel gesucht werden: Tippt man den Namen des heuer beim Großen Preis von San Marino tödlich verunglückten Motorradrennfahrers Shoya Tomizawa in die Google-Suchmaske ein, so schlägt das Programm häufig durchgeführte Suchvorgänge wie "Shoya Tomizawa Crash Video" von sich aus vor. Die entsprechenden wie entsprechend häufig abgerufenen Youtube-Videos sprechen eine deutliche Sprache: Der voyeuristische Blick schreckt auch – oder gerade – vor dem Tod nicht zurück.

Bei Hermann Maiers Sturz 1998 in Nagano ist alles noch einmal gut gegangen: Maier erhob sich, raste zu doppeltem Olympia-Gold und wurde für immer zum Helden. Wettkandidat Samuel Koch liegt im künstlichen Tiefschlaf. Wir werden alle dabei sein, wenn es in Kitzbühel wieder besonders gefährlich wird.

(Wiener Zeitung, 7.12.2010)

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