„Biophilia“: Die isländische Pop-Grenzwandlerin Björk bleibt ihrem
radikal-experimentellen Kurs treu.
Im Anfang war das Wort, und das Wort war bei Björk. „And
they say back then our universe / Wasn’t even there until a sudden bang / And
then there was light, was sound / Was matter and it all became the world we
know” – Nein, es ist nicht genug damit, dass sich die Sängerin im Laufe einer
mit genialisch-bizarren Einfällen nur so ausgefüllten Weltkarriere als Gesamtkunstwerk
inszenierte, um die Grenzen von Pop nicht nur auszuloten, sondern sie dauerhaft
niederzureißen.
Aktuell geht es darum, mit einem multimedialen Konzeptalbum zurück
zum Ursprung zu kehren. Björk erklärt auf ihrem achten, als „erstes App-Album
der Geschichte“ veröffentlichten und die Schnittstelle von Musik, Natur und Technik
umkreisenden Studioalbum „Biophilia“ nichts weniger als die Entstehung der
Welt.
Auch im konsequent der Kunst geschuldeten Universum von
Björk ist es wichtig, wie in den Niederungen des Pop allfällige Superlative
immer weiter zu steigern. Allerdings bedeutet das in diesem Fall, dass nicht
das Offensichtliche immer offensichtlicher, sondern das Abstrakte immer
abstrakter wurde. Nach kommerziell erfolgreichen Anfängen als schrille
Markantsängerin mit Arbeiten wie „Debut“ oder „Post“, mit denen Björk
postmodern Rave, Jazz und Musical-Elemente in ihre Kunst eingemeindete, ist die
1965 als Björk Guðmundsdóttir in Reykjavík geborene Sängerin spätestens mit
ihrem Album „Vespertine“ 2001 in der Hypermoderne gelandet. Diese dockte aber weniger
bei Bezugspunkten im Populären, sondern vielmehr bei der Neuen Musik im Sinne
von Karlheinz Stockhausen und Pierre Schaeffer an.
Unter Ausblendung herkömmlicher Songstrukturen verzichtete
Björk schließlich weitestgehend auf eingängige Rhythmen, also die für das
Format „Song“ zentralen Beats, und die ansonsten den Ton angebenden
Instrumente. Die menschliche Stimme allein reichte für Björks Schwanengesänge
auf das Konventionelle, die die Sängerin mit geschichteten Vokalspuren auf „Medúlla“
2004 in Interaktion mit sich selbst präsentierten. Seither erklärt die
Isländerin weit abseits der Single-Charts, wie man seinen Ruhm auch als
ungehörte Künstlerin noch weiter ausbaut.
![]() |
| Foto: Inez van Lamsweerde and Vinoodh Matadin |
Immerhin eroberte sich die Frau bereits im Jahr 2000 mit der
Hauptrolle in Lars von Triers filmischem Muscial-Drama „Dancer In The Dark“ ein
Publikum, das über ihre solchermaßen an Grenzen stoßende Fanschar hinausreichte.
Und sie bezauberte und irritierte bei der Eröffnung der Olympischen Sommerspiele
2004 in Athen gleichermaßen, als sie das Muttertier aller Völker verkörperte, dessen
Kleid sich im Stadionoval zu einer 900 Quadratmeter großen Weltkarte
entfaltete. Auch dank kunstvoller Musikvideos, in denen Björk ihre
esoterisch-mythischen Wurzeln als Fabelmutantin zwischen Ozeanien und Outer
Space schlug, war ihre Beteiligung an „Drawing Restraint 9“, einem weiteren Opus
Magnum ihres Lebensgefährten Matthew Barney, als Schauspielerin und Komponistin
gar nicht mehr nötig, um sich in der Kunstwelt zu legitimieren.
„Biophilia“ soll alledem nun die Krone aufsetzen. Und es ist
als bisher ambitioniertestes Projekt der Isländerin dabei so umfangreich und
prätentiös ausgefallen, dass das Staunen im Zuge des Erstkontaktes den
Abschaltreflex nur nach Punkten besiegt. Erstveröffentlicht als Applikation für
iPhone, iPad und iPod Touch, deren Menü vom Brummen des Orbits begleitet wird,
navigiert man sich durch die zehn jeweils als eigene Apps abrufbaren Songs, die
miteinander ein Sternensystem bilden. Während der aus Fernsehdokumentationen
bekannte Naturfilmer David Attenborough mit der Erzählstimme eines britischen Märchenonkels
bedeutungsschwer in das Projekt einführt, gibt es neben Animationen oder einer
Partitur des jeweiligen Albumstücks dabei auch die Möglichkeit, die Songs im
Rahmen eines 3-D-Games selbst zu modifizieren. Die als Revolution verkaufte
Distributionsform und ihre Begleitprodukte werfen aber auch die Frage auf, ob
sie nun wirklich nur der Kunst wegen erfunden wurden, oder in Zeiten der
rückläufigen Albumverkäufe nicht doch auch ein willkommenes Kapitalakkumulationsvehikel
von Apples Gnaden darstellen. Tatsächlich dürfte es selbst für Björk heute
schwierig sein, das Großprojekt samt einer Tournee zu finanzieren, die als
überdimensioniertes Spektakel inklusive Symposien zur Deutung des Björk’schen
Gesamtwerks (!) über die Bühne gehen soll.
![]() |
| Foto: Inez van Lamsweerde and Vinoodh Matadin |
Wie Songtitel wie „Dark Matter“ („Dunkle Materie“) oder
„Cosmogony“ („Die Entstehung der Welt“) bereits nahelegen, geht es in zehn auf
der zuletzt strikt wissenschaftlichen Bettlektüre Björks basierenden Vorlesungseinheiten
zum Thema Evolution, DNA, Kontinentalplattenverschiebungen, Schwerkraft,
Mondzyklen und Virologie um die letzten großen Fragen der Menschheit und darum,
was Björk aus ihnen macht – bei „Virus“ also zum Beispiel eine zum tragischen Scheitern
verurteilte Liebesgeschichte zwischen Zelle und Virus. Zur musikalischen
Übersetzung dienen eigens erfundene Instrumente wie eine Kreuzung aus Celesta
und Gamelan oder eine elektrisch gesteuerte Pendelharfe, die live ebenso zum
Einsatz kommen wird wie eine Tesla-Spule, die passend zum Song „Thunderbolt“ („Blitzschlag“)
gleichsam Funken versprüht und die Bassspur verantwortet.
Musikalisch setzt Björk damit den radikal-experimentellen Forstweg
ihres Spätwerks kompromisslos fort, ohne dem Sinnspruch aus dem Eröffnungsstück
freilich selbst zu gehorchen. Er lautet: „Der beste Weg, um neu zu starten, ist
es, jämmerlich zu scheitern.“
Björk scheitert nicht, sie klingt nur seltsam. Harfenklänge
und die verhaltensauffälligen Gesänge der Marke Sakrahaxn allein bestimmen
Stücke wie „Moon“ und „Solstice“, rurale Bläser verrichten ihr Werk bei
„Cosmogony“ unaufdringlich im Hintergrund, und dazwischen pumpen und pfeifen
die Orgeln aus dem Lehrbuch der modernen Klassik. Pop spielt – immerhin – noch insoferne
eine Nebenrolle, als bei „Crystalline“ ausgerechnet das heute auch nur mehr in
der Nische anzutreffende Drum-’n’-Bass-Genre ausgegraben wird und ein
mächtiger, posttechnoider Beat mit „Mutual Core“ einen Album-Höhepunkt in die
Atmosphäre böllert.
Danach sind die großen Fragen der Menschheit zwar so weit erörtert – eine
etwas kleinere allerdings bleibt: Was soll nach „Biophilia“ noch folgen? Aktuell
herrscht Übersättigung. Man kann und will es gar nicht wissen.
Björk: Biophilia (Universal Music)
(Wiener Zeitung, 8./9.10.2011)



Keine Kommentare:
Kommentar veröffentlichen