Freitag, Oktober 07, 2011

Lieder mit der Teslaspule

„Biophilia“: Die isländische Pop-Grenzwandlerin Björk bleibt ihrem radikal-experimentellen Kurs treu.

Im Anfang war das Wort, und das Wort war bei Björk. „And they say back then our universe / Wasn’t even there until a sudden bang / And then there was light, was sound / Was matter and it all became the world we know” – Nein, es ist nicht genug damit, dass sich die Sängerin im Laufe einer mit genialisch-bizarren Einfällen nur so ausgefüllten Weltkarriere als Gesamtkunstwerk inszenierte, um die Grenzen von Pop nicht nur auszuloten, sondern sie dauerhaft niederzureißen. 

Aktuell geht es darum, mit einem multimedialen Konzeptalbum zurück zum Ursprung zu kehren. Björk erklärt auf ihrem achten, als „erstes App-Album der Geschichte“ veröffentlichten und die Schnittstelle von Musik, Natur und Technik umkreisenden Studioalbum „Biophilia“ nichts weniger als die Entstehung der Welt.
Auch im konsequent der Kunst geschuldeten Universum von Björk ist es wichtig, wie in den Niederungen des Pop allfällige Superlative immer weiter zu steigern. Allerdings bedeutet das in diesem Fall, dass nicht das Offensichtliche immer offensichtlicher, sondern das Abstrakte immer abstrakter wurde. Nach kommerziell erfolgreichen Anfängen als schrille Markantsängerin mit Arbeiten wie „Debut“ oder „Post“, mit denen Björk postmodern Rave, Jazz und Musical-Elemente in ihre Kunst eingemeindete, ist die 1965 als Björk Guðmundsdóttir in Reykjavík geborene Sängerin spätestens mit ihrem Album „Vespertine“ 2001 in der Hypermoderne gelandet. Diese dockte aber weniger bei Bezugspunkten im Populären, sondern vielmehr bei der Neuen Musik im Sinne von Karlheinz Stockhausen und Pierre Schaeffer an. 

Unter Ausblendung herkömmlicher Songstrukturen verzichtete Björk schließlich weitestgehend auf eingängige Rhythmen, also die für das Format „Song“ zentralen Beats, und die ansonsten den Ton angebenden Instrumente. Die menschliche Stimme allein reichte für Björks Schwanengesänge auf das Konventionelle, die die Sängerin mit geschichteten Vokalspuren auf „Medúlla“ 2004 in Interaktion mit sich selbst präsentierten. Seither erklärt die Isländerin weit abseits der Single-Charts, wie man seinen Ruhm auch als ungehörte Künstlerin noch weiter ausbaut.

Foto: Inez van Lamsweerde and Vinoodh Matadin

Immerhin eroberte sich die Frau bereits im Jahr 2000 mit der Hauptrolle in Lars von Triers filmischem Muscial-Drama „Dancer In The Dark“ ein Publikum, das über ihre solchermaßen an Grenzen stoßende Fanschar hinausreichte. Und sie bezauberte und irritierte bei der Eröffnung der Olympischen Sommerspiele 2004 in Athen gleichermaßen, als sie das Muttertier aller Völker verkörperte, dessen Kleid sich im Stadionoval zu einer 900 Quadratmeter großen Weltkarte entfaltete. Auch dank kunstvoller Musikvideos, in denen Björk ihre esoterisch-mythischen Wurzeln als Fabelmutantin zwischen Ozeanien und Outer Space schlug, war ihre Beteiligung an „Drawing Restraint 9“, einem weiteren Opus Magnum ihres Lebensgefährten Matthew Barney, als Schauspielerin und Komponistin gar nicht mehr nötig, um sich in der Kunstwelt zu legitimieren. 

„Biophilia“ soll alledem nun die Krone aufsetzen. Und es ist als bisher ambitioniertestes Projekt der Isländerin dabei so umfangreich und prätentiös ausgefallen, dass das Staunen im Zuge des Erstkontaktes den Abschaltreflex nur nach Punkten besiegt. Erstveröffentlicht als Applikation für iPhone, iPad und iPod Touch, deren Menü vom Brummen des Orbits begleitet wird, navigiert man sich durch die zehn jeweils als eigene Apps abrufbaren Songs, die miteinander ein Sternensystem bilden. Während der aus Fernsehdokumentationen bekannte Naturfilmer David Attenborough mit der Erzählstimme eines britischen Märchenonkels bedeutungsschwer in das Projekt einführt, gibt es neben Animationen oder einer Partitur des jeweiligen Albumstücks dabei auch die Möglichkeit, die Songs im Rahmen eines 3-D-Games selbst zu modifizieren. Die als Revolution verkaufte Distributionsform und ihre Begleitprodukte werfen aber auch die Frage auf, ob sie nun wirklich nur der Kunst wegen erfunden wurden, oder in Zeiten der rückläufigen Albumverkäufe nicht doch auch ein willkommenes Kapitalakkumulationsvehikel von Apples Gnaden darstellen. Tatsächlich dürfte es selbst für Björk heute schwierig sein, das Großprojekt samt einer Tournee zu finanzieren, die als überdimensioniertes Spektakel inklusive Symposien zur Deutung des Björk’schen Gesamtwerks (!) über die Bühne gehen soll.

Foto: Inez van Lamsweerde and Vinoodh Matadin

Wie Songtitel wie „Dark Matter“ („Dunkle Materie“) oder „Cosmogony“ („Die Entstehung der Welt“) bereits nahelegen, geht es in zehn auf der zuletzt strikt wissenschaftlichen Bettlektüre Björks basierenden Vorlesungseinheiten zum Thema Evolution, DNA, Kontinentalplattenverschiebungen, Schwerkraft, Mondzyklen und Virologie um die letzten großen Fragen der Menschheit und darum, was Björk aus ihnen macht – bei „Virus“ also zum Beispiel eine zum tragischen Scheitern verurteilte Liebesgeschichte zwischen Zelle und Virus. Zur musikalischen Übersetzung dienen eigens erfundene Instrumente wie eine Kreuzung aus Celesta und Gamelan oder eine elektrisch gesteuerte Pendelharfe, die live ebenso zum Einsatz kommen wird wie eine Tesla-Spule, die passend zum Song „Thunderbolt“ („Blitzschlag“) gleichsam Funken versprüht und die Bassspur verantwortet.

Musikalisch setzt Björk damit den radikal-experimentellen Forstweg ihres Spätwerks kompromisslos fort, ohne dem Sinnspruch aus dem Eröffnungsstück freilich selbst zu gehorchen. Er lautet: „Der beste Weg, um neu zu starten, ist es, jämmerlich zu scheitern.“

Björk scheitert nicht, sie klingt nur seltsam. Harfenklänge und die verhaltensauffälligen Gesänge der Marke Sakrahaxn allein bestimmen Stücke wie „Moon“ und „Solstice“, rurale Bläser verrichten ihr Werk bei „Cosmogony“ unaufdringlich im Hintergrund, und dazwischen pumpen und pfeifen die Orgeln aus dem Lehrbuch der modernen Klassik. Pop spielt – immerhin – noch insoferne eine Nebenrolle, als bei „Crystalline“ ausgerechnet das heute auch nur mehr in der Nische anzutreffende Drum-’n’-Bass-Genre ausgegraben wird und ein mächtiger, posttechnoider Beat mit „Mutual Core“ einen Album-Höhepunkt in die Atmosphäre böllert.

Danach sind die großen Fragen der Menschheit zwar so weit erörtert – eine etwas kleinere allerdings bleibt: Was soll nach „Biophilia“ noch folgen? Aktuell herrscht Übersättigung. Man kann und will es gar nicht wissen. 

Björk: Biophilia (Universal Music)

(Wiener Zeitung, 8./9.10.2011)

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