Synthie-Fürst
Jean Michel Jarre erinnerte in Wien an seine einstigen Visionen.
In einem Punkt war Helmut Schmidt schon immer zu
widersprechen: Wären alle zum Arzt gerannt, die unter Visionen zu leiden
glaubten – die Erde wäre heute doch etwas trostlos. Vor allem die Geschichte
der elektronischen Musik erklärt diesbezüglich, dass der frühe Vogel zwar letztlich
den Wurm fangen mag. Er muss es sich davor allerdings auch gefallen lassen, in
den Exotenkäfig verbannt zu werden.
Wer in den 70er-Jahren in seiner Kunst auf
elektronische Gerätschaft vertraute, konnte aber immerhin noch auf
Alleinstellungsmerkmale setzen. Wo nichts ist, kann vieles wachsen: Besonders
einflussreich waren dabei vor allem Kraftwerk aus Düsseldorf, die Avantgarde
und Pop kurzschlossen und damit das Fundament für etwas errichteten, das knapp
zwanzig Jahre später als Techno die Welt eroberte.
Reise
nach Outer-Space
Zur gleichen Zeit begann auch Jean Michel Jarre als
Musikant mit dem Taschenrechner in der Hand eine fiepsende Zukunftsmusik zu
entwerfen, für die sich die Öffentlichkeit nicht interessierte. Vier Jahre nach
dem gescheiterten Debütalbum „Deserted Place“ allerdings gelang dem Franzosen mit
den verstärkt auch nach Outer-Space schielenden Sci-Fi-Reisen seines
„Oxygene“-Zyklus 1976 der Durchbruch. Jarre mutierte zum frühen Tastengott, der
die meisten Konzerte mit den vielen Besuchern absolvierte: Die dabei
aufgestellten Rekorde korrespondierten mit einer ästhetisch um Astralkitsch und
Prog-Pomp erweiterten, also auf Bombastniveau aufgeblasenen Musik, die der
futuristischen Grundlagenforschung nicht zwingend treu bleiben wollte. Wie man
sich bei einem auf frühere Alben wie eben „Oxygene“, „Equinoxe“ oder „Rendez-vous“ fokussierten Sitzkonzert vor
4500 Besuchern am Donnerstag in der Wiener Stadthalle überzeugen durfte, ist
Jarre auch heute nicht müde, das Erbe zu verwalten.
Zierrat und Dogma-Stil
Nach dem Einzug des Fürstenvermählungsmusikanten und
dessen schon vorab verdienter Lobpreisung durch die Menge entführte Jarre
gemeinsam mit zwei Tastenmännern und einem Elektrotrommler vor einem Fuhrpark
zuvorderst als Zierrat verwendeter, schrankgroßer Synthesizer aus dem Analogzeitalter
auch auf der Videowall unentschlossen vom Gestern ins Heute, ohne dabei modern
zu wirken. Während die an die Hallendecke gerichteten Laser daran erinnerten,
dass die Bauerndisco in Linz den Piloten das Landen auch nicht erleichtert, wenn
sie gerade nach Hörsching wollen, solierte Jarre am Moog-Liberation-Umhängekeyboard,
das klang, als hätte man die Stromgitarre nicht eigens erfinden müssen. Zu gut
pluckernden und pumpenden Beats wurde es dank abwechselnd auf naive Kunst, Eurodance,
KIKA-Erkennungsmelodie oder Symphonie-Imitationssatz gestimmter Melodien aber
bald etwas mühsam. Jarre selbst war mit im Dogma-Stil eines Lars von Trier
gehaltenen Kamerafahrten über seine Schaltkanzel vor allem darauf bedacht, uns
über den Live-Charakter des Konzerts zu informieren.
Gefühlte viertausend
Beckentuscher, drei Laserharfen-Exkurse und zwei Stunden später durfte man sich
zwar wundern, dass damit einst 3,5 Millionen Menschen auf einmal zu begeistern
waren. Heute hat das Ganze aber auch sein Gutes: Einen Cent pro Eintrittskarte
ließ der UNESCO-Botschafter für Bildungsprojekte zur Seite legen.
(Wiener Zeitung, 19./20.11.2011)

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