Mittwoch, März 14, 2012

Lieder, die das Leben schrieb

Udo Jürgens triumphierte in der Wiener Stadthalle.

Udo Jürgens beginnt kein Konzert. Udo Jürgens zieht ein. In der ausverkauften Wiener Stadthalle geschah das am Dienstag während der zunächst noch aus dem Off angestimmten Reflexion über den Gang auf die Bühne („Noch drei Minuten“), an deren Ende sich der Vorhang hob und ein Bekenntnis stand: „Ich glaub' ich fliege, die Welt versinkt um mich. So ist es immer wieder, und darum singe ich!“

Damit war zunächst einmal erklärt, warum Udo Jürgens unter den Österreichern zu jener raren Spezies gehört, die sich nicht freut, weit diesseits der 60 in ÖBB-Frühpension gehen oder die Hacklerregelung in Anspruch nehmen zu dürfen. Der Applaus, der ihm dabei entgegenschlug, mag aus Motivationsgründen noch immer hilfreich sein, um sich auch im stolzen Alter von 77 Jahren weiterhin für das Erwerbsleben zu entscheiden und erneut auf große Fahrt durch Österreich, Deutschland und die Schweiz aufzubrechen. Im Gegensatz zu, sagen wir, Winkelschneider und Presslufthammer klingt das Klatschen außerdem auch wesentlich angenehmer, wenn das Tagwerk verrichtet wird.

Nur ein Musikant

Das Publikum also liebt Udo Jürgens. Und Udo Jürgens liebt zurück. Wenn der Beau als ewiger Lebemann die Groupies heute auch nicht mehr zur Nacht der offenen Tür ins Hotelzimmer lädt, so wird diese Liebe doch mit zärtlichen Gesten zum Ausdruck gebracht. Udo Jürgens haucht Küsschen ins Publikum. Udo Jürgens schüttelt Hände und senkt demütig sein Haupt. Bald werden erste Geschenke zur Bühne gebracht, weil man als Entertainer („Ich bin nur ein Musikant!“) auch nicht befürchten muss, wegen Bestechlichkeit vor Gericht oder bei Gabi Moser im U-Ausschuss zu landen.

Mit „Schenk mir einen Traum“ vom aktuellen Album „Der ganz normale Wahnsinn“, das die Tournee im ersten Konzertteil sehr auf Kosten der Hits dominiert, bewies Jürgens erstmals an diesem Abend seine Themenführerschaft in Sachen Menschlichkeit. Den Überlegungen jener Phase folgend, als er mit „5 Minuten vor 12“ die Nachhaltigkeit für sich entdeckte, mag die Welt zwar kaputt sein, kalt und gefährlich. Flankiert von der Pepe Lienhard Band, die den Chanson-Charakter der Lieder mit Wohlfühlarrangements hervorstrich, als Big Band nach Las Vegas schielte oder es, wie mit der Filmmusik zu „Der Mann mit dem Fagott“, auch symphonisch anlegte, erneuerte Jürgens aber sein Bekenntnis zu einem: Als Liebende sind wir alle erheblich zusammener. Allein sind wir verloren und tot. Liebe ohne Leiden ist das, was Männer mit Hang zur Zweitfrau ihren eigenen Töchtern wünschen, weil sie als ewiger Geilspecht selbst eine Gaby im Park stehen haben.

Lebensbewältigungslyrik

„Dafür brauch ich dich“, „Flieg mit mir“, „Schenk mir noch eine Stunde“: Anders als sonst im Schlagerfach üblich, entführt Jürgens dabei aber nicht nach Utopia. Hinter diesem mit reichlich Lebensbewältigungslyrik und von Udo Jürgens auch in zahlreichen Ansprachen als Elder Statesman bekundeten, lauten Schrei nach Liebe, steckt eine entscheidende Erkenntnis: „Wer nie verliert, hat den Sieg nicht verdient“ – wir dürfen nicht, wir müssen scheitern. „Heute beginnt der Rest deines Lebens“ besagt folgerichtig auch nicht, dass bald alles krachen geht. Im Notfall ist das Versagen die Chance, nach einem Haircut neu anzufangen.

Dass sich Udo Jürgens aktuell über Anglizismen mokiert und hinter dem Internet den Gottseibuns persönlich erkennt, steht ihm weniger gut – im Konzert aber spielte das keine Rolle. „Ich war noch niemals in New York“ als alter Wunsch, vom Zigarettenholen nicht mehr zurückzukommen, und „Ein ehrenwertes Haus“, mit dem die Heuchler einst abgewatscht wurden, führten ein letztlich enthusiasmiertes Publikum hin zum Grande Finale.

Mit Udo Jürgens im Bademantel und allein am Klavier waren spätestens bei „Griechischer Wein“ alle glücklich. Blumensträuße, rote Rosen, Küsse: triumphal.

(Wiener Zeitung, 15.3.2012)

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