Dienstag, April 03, 2012

Der anonyme Melancholiker

Als Graf aus dem Grubenland bringt er Licht in die Herzen: Unheilig mit neuem Album

- Musik zwischen Pathos, Schlager, Rammstein und U2

Mit knapp eineinhalb Millionen verkauften Einheiten des Erfolgsalbums „Große Freiheit“ gelten der biografisch umrätselte „Graf“ und sein Projekt Unheilig seit dem Jahr 2010 als weltberühmt in Deutschland. Während die Musik der einst in Aachen gegründeten Unternehmung das Leben bevorzugt über eine alte Weisheit des nun auch als Duettpartner gewonnenen Wanderpredigers Xavier Naidoo zu erklären versucht – dieser Weg wird kein leichter sein! –, führte auch die Laufbahn von Unheilig bis zu diesem Moment über steiniges Terrain. Schließlich dauerte es bis zum Durchbruch im Mainstream sieben beschwerliche Alben lang, auf denen die Standortbestimmung etwa auch mit der genrespezifischen Bearbeitung klassischer deutscher Weihnachtslieder („Kläng, Glöckchen, Klängälängäläng!“) hin zum Wave-Gotik-Treffen nach Leipzig und auf das Cover einschlägiger Fachmagazine für den musikaffinen Lack- und Lederfreund führte.

Unheilige Dreifaltigkeit

Als Graf aus dem Grubenland musste der anonyme Melancholiker zunächst das Jammertal der Düsterromantik durchschreiten, um das Licht in den Herzen der Republik heller denn je erstrahlen zu lassen. Nach der Trennung von seinen Mitmusikern führte er das Projekt bereits ab 2002 als Sänger, Texter und Produzent und solchermaßen in Gestalt der unheiligen Dreifaltigkeit fort. Und er landete nicht zuletzt dank seines Schritts aus dem Schattenreich und der dabei abgefallenen Weltumarmungshymne „Für immer“ einen Hit im Zeichen jenes schweren Pathos, das bekanntlich auch bereits Herbert Grönemeyer als bundesdeutsche Erfolgsformel diente. Während der Graf das Interesse an der von ihm geschaffenen Kunstfigur auch über die Verschleierung seines tatsächlichen Ichs bis hin zur Negierung seines bürgerlichen Namens weckte, dominierten pünktlich zur Krise und noch vor dem „Born To Die“-Jahr 2012 die Durchhalteparolen: Im Angesicht des Todes und unseres Wissens um die Endlichkeit aller Dinge beschwor mit „Geboren um zu leben“ ein weiterer Hit die Bedeutsamkeit der menschlichen Existenz – sowie die Notwendigkeit, aus der verbleibenden Restzeit „Tage wie Gold“ zu machen. Mit „Lichter der Stadt“ belegt auch das nun vorliegende Nachfolgewerk im Intentionsmodus „berühren wollend“ den unbedingten Krisencharakter von Unheilig – tatsächlich dürfte es für den Grafen in Zeiten der Hochkonjunktur deutlich schwieriger sein, mit diesem Zugang eine Mehrheit zu finden. 

Sorge dich nicht!

Grundiert auf einer kruden musikalischen Mischung aus Balladen mit üppigem Streicherschmelz, Rammstein-Gedächtnisriffs, der strammdeutschen Deklamation eines Till Lindemann, U2-Gitarren (Pathos!) und Schlagerrefrains, wird das Gute und Schöne erst vor dem Hintergrund der kalten Tatsachen bedeutsam: Allein sind wir verloren. Gemeinsam sind wir zusammener. Wir werden alle sterben. Lass und das Beste aus unseren Leben machen. Der Tod ist das Ende, aber die schöne Erinnerung bleibt.

In schwierigen Zeiten wird die Ankunft des Heilands erwartet. Das Volk heißt den Grafen willkommen. Der Graf reicht die Hand. Er spendet Trost, Kraft und Rat. Die Botschaft lautet: „Hab keine Angst“ und „Sorge dich nicht“. Und sie wird mit zweifelhafter Lyrik ins Poesiealbum eingetragen: „Ich wünsche mir, wenn du zu den Sternen siehst, dass du dich einmal an mich erinnerst, weil du immer mein Stern bist.“

Am Ende menschelt es bei Unheilig so sehr, dass sich selbst der in bester Rammstein-Tradition besungene „Eisenmann“ als stahlinistisches Teutonenmännchen beim Aufstieg aus der Flammenwiege nach nichts weniger sehnen darf als nach einem kleinen bisschen Liebe. Hoffnung ist der Antrieb, Halt ist das Ziel. „Ich suche mir ein kleines Glück, und das Leben ist schön.“ Wie gesagt: Es sind schwierige Zeiten.    
 
Unheilig: Lichter der Stadt (Vertigo Berlin / Universal)

(Wiener Zeitung, 4.4.2012)

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