Freitag, April 20, 2012

Die Kunst des Unmöglichen

Donaufestival: Ab nächster Woche kommt es in Krems zur „Vertreibung ins Paradies“

- Utopia als Sehnsuchtsort hatte im Pop schon immer Saison

Man könnte jetzt zwar auch mit Udo Jürgens beginnen – im Gegensatz zum alten und letztlich zum Scheitern verurteilten Spießbürgertraum davon, vom Zigarettenholen eines Abends nicht mehr zurückzukehren, wurde die Geschichte der Utopie in der Popkultur allerdings umgeschrieben. Schließlich war die (zumindest einstweilige) Unerreichbarkeit der Dinge nur so lange Teil des utopischen Charakters, bis der Erlöser kam, um das Gegenteil zu behaupten und den Verheißungen Tatsachen folgen zu lassen: „Ich aber sage euch…“ – was könnte diesbezüglich aufschlussreicher sein als der Rock ’n’ Roll, gelesen als eine Kulturgeschichte der ewigen Erdreistung?

Blixa Bargeld brachte es mit den Einstürzenden Neubauten 1996 so auf den Punkt: „Nur was nicht ist, ist möglich.“ Als Grundvoraussetzung dafür, „schwarze Zahlen ins utopische Kalkül“ zu schreiben, wurde die Glaubenssache zur wissenschaftlichen Disziplin erhoben: „Du kannst es dir vorstellen, also kannst du es auch bauen“ und „Mach es zu deinem Projekt“ als Selbstermächtigungsparolen aus dem inneren Do-it-yourself-Baumarkt. Lesen wir auch ein Zitat Ernesto Che Guevaras als popkulturelles Manifest, wäre der Traum als schon von Richard Sanderson als seine Realität besungener Schlager längst ein Hit im echten Leben. „Seien wir realistisch – versuchen wir das Unmögliche!“

Der Rock ’n’ Roll näherte sich diesem Unterfangen mit einer grundsoliden Scheiß-drauf-Haltung an. Spätestens mit Punk als nihilistischem Angebot an alle Nonkonformisten da draußen war „das Unmögliche“ insofern möglich geworden, als die Loslösung von der autoritären Nachkriegsgeneration ein Gefühl der individualisierten Befreiung zuließ. Die von den Hippies noch kurz zuvor friedvoll als Liebesgemeinschaft imaginierte Gesellschaftsordnung zeigte ein raueres Antlitz, als der durchschnittliche Tunichtgut es sich hätte erträumen können: Sid Vicious, schau oba!

Während Utopia in den 1980er-Jahren auch über wirtschaftliche Entwicklungen hingegen aussah wie die Cocktailbar im Wham!-Video zu „Club Tropicana“, setzte Techno als letzter harter Einschnitt ins Genregefüge am ehesten dort an, wo in der Disco-Ära das Paradies in den Tanzstuben verortet wurde: Die Nacht als letztes Refugium des ewigen Lumpis, Liebemachen als Lebenseinstellung, Hedonismus als Realismus und ähnliche Dinge prägten die Zeit. Was im Studio 54 vom HI-Virus abgebremst wurde, fand in den zum Garten Eden des Pornozeitalters umgewidmeten Büschen am Rande der Straße des 17. Juni in Berlin seine rappelnde Wiederaufnahme.

Heute herrscht Ernüchterung, Katerstimmung – und bisweilen auch Ratlosigkeit. Wie könnte eine neue Form der Utopie auch aussehen, wenn sämtliche Science-Fiction-Szenarien zu Papier gebracht wurden und die Menschheit bereits lässig durchs Weltall cruist? Wie soll die Gesellschaft je liberaler werden, wenn neue alte Werte fröhliche Urständ feiern? Und wie soll Popmusik noch visionär sein können, wo unter den Vorzeichen der Retromania längst die Montage historischer Versatzstücke in ein bestenfalls zeitgenössisches Umfeld dominiert?

Das Donaufestival ist sich dieser Problematik bewusst. Und es will das Motto seiner achten Saison seit der Neuausrichtung – „Die Vertreibung ins Paradies“ – ab kommender Woche auch unter den Vorzeichen der Krise verstanden wissen. Immerhin, so Intendant Tomas Zierhofer-Kin im Programmheft, werde uns „nach mehr als 2000 Jahren Abendland klar, dass es doch wohl eher ein Nachtland ist“. Dass aber auch und gerade Krisenzeiten für einen kreativ ergiebigen Nährboden sorgen und „Kunst als Gegenkraft, die kulturelle Prozesse in Frage stellen und widerrufen kann“, vor allem dort eine Spielwiese vorfindet, wo das System brüchig und somit angreifbar geworden ist, darf immerhin als Chance gewertet werden. Alles ist möglich, wo vieles unsicher erscheint – das birgt höchstens die Gefahr in sich, einen kühnen Entwurf mit kümmerlichen Tagträumen zu verwechseln.

Es zählt der Wille. Oder, wie die US-Progrocker von Utopia mit einem Album aus 1977 über mögliche Irrwege informierten, von denen man gar nicht erst beeindruckt sein sollte: „Oops! Wrong planet.“ 

(Wiener Zeitung, 21./22.4.2012)

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