- Utopia als
Sehnsuchtsort hatte im Pop schon immer Saison
Man könnte jetzt
zwar auch mit Udo Jürgens beginnen – im Gegensatz zum alten und letztlich zum
Scheitern verurteilten Spießbürgertraum davon, vom Zigarettenholen eines Abends
nicht mehr zurückzukehren, wurde die Geschichte der Utopie in der Popkultur
allerdings umgeschrieben. Schließlich war die (zumindest einstweilige)
Unerreichbarkeit der Dinge nur so lange Teil des utopischen Charakters, bis der
Erlöser kam, um das Gegenteil zu behaupten und den Verheißungen Tatsachen
folgen zu lassen: „Ich aber sage euch…“ – was könnte diesbezüglich aufschlussreicher
sein als der Rock ’n’ Roll, gelesen als eine Kulturgeschichte der ewigen Erdreistung?
Blixa
Bargeld brachte es mit den Einstürzenden Neubauten 1996 so auf den Punkt: „Nur
was nicht ist, ist möglich.“ Als Grundvoraussetzung dafür, „schwarze Zahlen ins
utopische Kalkül“ zu schreiben, wurde die Glaubenssache zur wissenschaftlichen
Disziplin erhoben: „Du kannst es dir vorstellen, also kannst du es auch bauen“
und „Mach es zu deinem Projekt“ als Selbstermächtigungsparolen aus dem inneren Do-it-yourself-Baumarkt.
Lesen wir auch ein Zitat Ernesto Che Guevaras als popkulturelles Manifest, wäre
der Traum als schon von Richard Sanderson als seine Realität besungener
Schlager längst ein Hit im echten Leben. „Seien wir realistisch – versuchen wir
das Unmögliche!“
Der
Rock ’n’ Roll näherte sich diesem Unterfangen mit einer grundsoliden Scheiß-drauf-Haltung
an. Spätestens mit Punk als nihilistischem Angebot an alle Nonkonformisten da
draußen war „das Unmögliche“ insofern möglich geworden, als die Loslösung von
der autoritären Nachkriegsgeneration ein Gefühl der individualisierten
Befreiung zuließ. Die von den Hippies noch kurz zuvor friedvoll als Liebesgemeinschaft
imaginierte Gesellschaftsordnung zeigte ein raueres Antlitz, als der
durchschnittliche Tunichtgut es sich hätte erträumen können: Sid Vicious, schau
oba!
Während
Utopia in den 1980er-Jahren auch über wirtschaftliche Entwicklungen hingegen aussah
wie die Cocktailbar im Wham!-Video zu „Club Tropicana“, setzte Techno als
letzter harter Einschnitt ins Genregefüge am ehesten dort an, wo in der
Disco-Ära das Paradies in den Tanzstuben verortet wurde: Die Nacht als letztes
Refugium des ewigen Lumpis, Liebemachen als Lebenseinstellung, Hedonismus als
Realismus und ähnliche Dinge prägten die Zeit. Was im Studio 54 vom HI-Virus
abgebremst wurde, fand in den zum Garten Eden des Pornozeitalters umgewidmeten Büschen
am Rande der Straße des 17. Juni in Berlin seine rappelnde Wiederaufnahme.
Heute
herrscht Ernüchterung, Katerstimmung – und bisweilen auch Ratlosigkeit. Wie
könnte eine neue Form der Utopie auch aussehen, wenn sämtliche
Science-Fiction-Szenarien zu Papier gebracht wurden und die Menschheit bereits
lässig durchs Weltall cruist? Wie soll die Gesellschaft je liberaler werden,
wenn neue alte Werte fröhliche Urständ feiern? Und wie soll Popmusik noch
visionär sein können, wo unter den Vorzeichen der Retromania längst die Montage
historischer Versatzstücke in ein bestenfalls zeitgenössisches Umfeld
dominiert?
Das
Donaufestival ist sich dieser Problematik bewusst. Und es will das Motto seiner
achten Saison seit der Neuausrichtung – „Die Vertreibung ins Paradies“ – ab
kommender Woche auch unter den Vorzeichen der Krise verstanden wissen.
Immerhin, so Intendant Tomas Zierhofer-Kin im Programmheft, werde uns „nach
mehr als 2000 Jahren Abendland klar, dass es doch wohl eher ein Nachtland ist“.
Dass aber auch und gerade Krisenzeiten für einen kreativ ergiebigen Nährboden
sorgen und „Kunst als Gegenkraft, die kulturelle Prozesse in Frage stellen und
widerrufen kann“, vor allem dort eine Spielwiese vorfindet, wo das System
brüchig und somit angreifbar geworden ist, darf immerhin als Chance gewertet
werden. Alles ist möglich, wo vieles unsicher erscheint – das birgt höchstens
die Gefahr in sich, einen kühnen Entwurf mit kümmerlichen Tagträumen zu
verwechseln.
Es zählt der Wille. Oder,
wie die US-Progrocker von Utopia mit einem Album aus 1977 über mögliche Irrwege
informierten, von denen man gar nicht erst beeindruckt sein sollte: „Oops!
Wrong planet.“
(Wiener Zeitung, 21./22.4.2012)

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