Freitag, Mai 25, 2012

Schönheit und Schlafdrang

Die isländische Ausnahmeband Sigur Rós meldet sich mit ihrem sechsten Album zurück: „Valtari“ sorgt für Ruhe nach dem Sturm

Die Ökonomie der Aufmerksamkeit und andere Gesetzmäßigkeiten eines alten Marktschreiers namens Pop waren Sigur Rós schon immer egal. Immerhin lehnte die Band 2001 und somit erst kurz, nachdem sie erstmals international wahrgenommen wurde, einen reichweitenstarken TV-Auftritt bei David Letterman ab – die drei Minuten Spielzeit, die den Isländern eingeräumt wurden, waren nicht genug für ihren Zerdehnungspop. Eine Karriere, so konsequent wie radikal im Dienst der eigenen künstlerischen Utopie, war die Folge. Dass die Band nach zuletzt allgemeinverträglicheren Ansätzen in überraschender Song-Nähe auf ihrem nun erscheinenden, sechsten Album „Valtari“ den Massenmarkt mit sanften Ambientsounds stoischer denn je umschifft, kann nur als folgerichtig bezeichnet werden.

1994 in Reykjavík gegründet, definiert die Band um Sänger Jón Þór Birgisson ihren epischen Sound schon immer zwischen atmosphärischem Ambientklang und der Dynamik des Post-Rock. Während sich Sigur Rós bisweilen als stillste Slow-Motion-Kombo der Welt präsentieren, sorgen heftige Crescendi in orchestraler Umrahmung nicht selten für jenes reinigende Donnerwetter, das die Neigung dieser Musik zum Hochemotionalen mit Nachdruck untermauert. Pathos, Kitsch und Ansätze von naturnaher Esoterik sind dabei zwar auch keine Fremdwörter. Kaum je plakativ zur Schau gestellt, bleibt die Kunst von Sigur Rós als unbedingte Herzmusik davon aber unbeschadet – und ist dabei so steinerweichend schön, dass es wehtut. Die enigmatische Aura der Band, festgemacht an bevorzugt auf Isländisch oder in der eigenen Fantasiesprache „Vonlenska“ betexteten Songs, erweist sich im Zeitalter der kollektiven Enträtselung als zusätzlicher Segen. Wenn schon alles gesagt wurde, nur noch nicht von allen, darf zumindest noch die Imagination ihre Deutungshoheit bewahren.

Gefühlige Stoßseufzer

Nachdem Sigur Rós auf ihrem bisher letzten Album, dem 2008 erschienenen „Með suð í eyrum við spilum endalaust“ näher denn je in positiv eingefärbte Song-Gefilde vorgedrungen waren und ein Soloalbum Birgissons die Popambitionen bestätigte, könnten sich solchermaßen neu gewonnene Hörer mit dem heute, Freitag, erscheinenden „Valtari“ eventuell aber schwertun: Seinem ins Deutsche als „Dampfwalze“ übersetzen Titel zum Trotz kehrt die Band zu ihren Anfängen im zurückgenommenen Ambient-Fach zurück. In den Himmel gerichtete Stoßseufzer, Chorknaben-Diskant und die isländische Version des Gailtaler Gesangsvereins („Dauðalogn“) stehen neben vor Gefühl zitternd im Vibrato aufspielenden Streichern, wie gewohnt mit dem Cellobogen gestrichenen E-Gitarren und Klaviermotiven, die wie Schneeflocken vom Eyjafjallajökull auf die Erde herniederrieseln. Abgesehen vom bald polternden „Varúð“ erweisen sich die acht neuen, weitgehend schlagzeugfrei und teils instrumental gehaltenen Stücke diesmal als auch für Sigur Rós brutal in der Sanftheit.

Eine gewisse Orientierungslosigkeit ist dem Album in Ansätzen dennoch nicht abzusprechen – dass das Titelstück seine wenigen Ideen womöglich zu oft wiederholt und „Rembihnútur“ unentschlossen abhebt, um bald zur Bruchlandung anzusetzen, darf auf Probleme im Entstehungsprozess zurückgeführt werden. Ein 2010 angeblich verworfenes Album, das für „Valtari“ nun teils doch wieder herhalten musste, und der Rückgriff auf gut und gerne sieben Jahre alte Demos künden ebenso davon wie aktuelle Interview-Statements.         

An der erhabenen Schönheit dieser Musik ändert das aber wenig – und man muss sich dieses die Ruhe nach dem Sturm verkörpernde Album ja auch nicht zum Aufstehen anhören. Live und Open-Air am 4. September in der Wiener Arena.

Sigur Rós: Valtari (EMI)

(Wiener Zeitung, 25.5.2012)

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