Die Frage, ob man als Rockstar in Würde altern kann, ist nicht erst seit den Tagen sogenannter Reunions-Tourneen einst abgefeierter, dann aber in der Versenkung verschwundener "Superstars" erneut zu verhandeln. Im Falle der US-amerikanischen Hardrock-Band Kiss, die am Montag in der Wiener Stadthalle den dritten Europatermin ihrer Konzertreise zum 35-jährigen Bestand bestreitet, erübrigen sich derlei Diskussionen aber alleine schon deshalb, weil ihr bereits zu Gründerzeiten jedweder Hauch von gutem Ansehen abgesprochen werden musste.
Kiss, das bedeutete schon damals: Rock’n’Roll als hochgehaltene Neigung zum schlechten Geschmack. Kniehohe Plateau-Stiefel als Nährboden niederer Instinkte. Mutters Schminkkästchen als Selbstbedienungsladen für rebellische Zöglinge. Weil ich es mir wert bin!
Warum das heute – und jetzt auch mit Bierbauch – plötzlich besser sein soll, bleibt zwar ein Rätsel. Und trotzdem ist dem Quartett um Sänger Paul Stanley und Bassist Gene Simmons, das zuletzt vor zehn (!) Jahren neues Material veröffentlichte und nicht erst seit damals vor allem mit dem Verwalten des einstigen Schaffens und der ökonomischen Ausschlachtung seines Kultstatus mittels Merchandising-Produkten wie Kiss-Kondomen oder – für altgediente Fans – Kiss-Särgen beschäftigt ist, die Gunst des Publikums bereits beim einleitenden "Deuce" gewiss.
Gut zwei Stunden werden wir uns heute zwischen Confetiiregen und rhythmisch in die Songs gemischtem Böllerkrach bei gleichzeitigem Einsatz von Flammenwerfern köstlich amüsieren, während die Bandmitglieder an Seilen auf die Bühnendecke gezogen werden und dort auch noch Soli schmettern müssen. Und das in der Glamversion eines Gladiatorenkostüms! Und das bei der Scheißhitze! Und das in dem Alter! Sagen wir es so: Wenn Simmons seine Zunge bis weit über das Kinn aus dem Mund hängen lässt, sieht das heute tatsächlich so aus, aus läge hier ein Hund in den letzten Atemzügen.
Kredenzt wird vor allem aus der historischen Live-Aufnahme "Alive", mit der Kiss 1975 ihren Triumphzug in die kommerzielle Oberliga der Rockmusik antraten: Im "Firehouse" ist es "Hotter Than Hell", der alte "Rock Bottom" hat "Nothin’ To Lose" und verlangt nach "Cold Gin". Mit "Love Gun" oder "Lick It Up" setzt es Songs über die Unbezwingbarkeit des Sexualtriebes als selbst erlittene Männertragödie, "Shout It Out Loud" und "I Was Made For Loving You" bringen die Halle als auf eins, zwei dresch gegebene Hymnen endgültig zum Toben.
Jetzt darf auch Kunstblut fließen! Ein Orgien-Mysterien-Theater für Arme, oder: Ein großer Abend für alle, die seit den 70er Jahren immer nie erwachsen sind.
(Wiener Zeitung, 14.5.2008)
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