Wer nach spätestens zwei Minuten mit Sigur Rós am Dienstagabend am Open-Air-Gelände der Wiener Arena keine feuchten Augen hatte, der muss sich rückwirkend schon eines fragen: Ob er aus Stein ist. Herzlos. Oder bereits tot.
Das Gefühl der unmittelbaren Rührung entfaltete sich gleich eingangs mit "Svefn-g-englar" auf zwei Ebenen. Zum einen mag dieser Ton gewordene Gänsehautgenerator bei etlichen Anwesenden der erste Berührungspunkt mit dem enigmatischen Quartett aus Island gewesen sein, als es 1999 auch außerhalb seiner Landesgrenzen vorstellig wurde. Und nichts bindet das Publikum bekanntlich mehr an die Musik als die Erinnerung an ferne, mit ihr verknüpfte Erfahrungsräume und Lebensabschnitte. Leider ist heute zwar morgen schon gestern und ein Pflänzchen flugs auch wieder verwelkt. Wie Ludwig van Beethoven einst aber schon einwarf: "Wahre Kunst bleibt unvergänglich!"
Der mit einer Spielzeit von knapp zehn Minuten tatsächlich monolithische Song brachte auch deshalb live den berühmten Knödel zurück in den Hals. Stellvertretend für das Œuvre der 1994 gegründeten Ausnahmeband, wird hier zwischen den Polen Zerdehnung und Repetition zu mit Hall veredeltem Beserlschlagzeug, zurückhaltender Orgel und dem Falsettgesang Jón Þór Birgissons mit einer vom Cellobogen bearbeiteten, waidwund aufjohlenden E-Gitarre langsam in Richtung eines lauthals in die Welt gesetzten Auf- und Ausbruchs gearbeitet: In barocker Opulenz.
Deutlicher noch als hier wurde der gern im Dauercrescendo verhandelte Zusammenhang zwischen Verzagtheit und letztendlichem Donnergrollen bei Liedern wie "Glósóli" oder der als Zugabe gegebenen, titellosen Nummer 8 aus "( )" von 2002, bei denen am Ende zu Herzen gehende Melodiebögen aus dem Höllenschlund mit Walls Of Sound auffahrender Lärmgebilde atmeten. Anderswo blieb es mit Xylophon, Glockenspiel oder sanft gesetzten Klavierakkorden zärtlich: "All alright" und "Fljótavík" kamen aus dieser Ecke.
Welcher Inhalte sich die vor allem auf Isländisch oder der bandeigenen Fantasiesprache "Hopelandic" verfassten Lieder bedienen, könnte man sich im Internet zwar erklären lassen. Davon sei aber abgeraten. Immerhin gehört es mit zum Vortrefflichsten an dieser Band, dass sie der Popkultur das Rätselhafte, das Fantastische zurückgab. Sigur Rós, das ist letztlich auch, was der Hörer darin vermutet.
Mit Streichquartett und einer fünfköpfigen, in sektiererisches Weiß gehüllten Bläsergruppe wurde ohnehin kein Hehl daraus gemacht, welche Gefühlswelt man jeweils durchschritt. Zur an diesem Abend vorherrschenden Grundstimmung aus Melancholie und Weltschmerz gesellten sich auf einer plötzlich im närrischen Knallbunt erstrahlenden Bühne mit den spin-nerten Gruppengesängen von "Gobbledigook" im Confettiregen auch noch Ausgelassenheit, Freude und Euphorie: Alles war dabei, an diesem großen, großen Abend.
(Wiener Zeitung, 10.7.2008)
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