Guter Geschmack bei schlechter Laune: Die Trip-Hop-Veteranen Massive Attack gefielen mit noch unveröffentlichten Songs im Wiener Gasometer.
Ihr Wien-Konzert begehen die britischen Trip-Hop-Miterfinder und -Erneuerer Massive Attack am Montagabend im ausverkauften Gasometer auch mit bisher unveröffentlichten Songs. Ein Wagnis? Denn Pop, und man darf diesen Umstand nicht unterschätzen, funktioniert nicht zuletzt als machina memoriae, als nostalgiebetriebene Erinnerungsmaschine. Stichwort: Hör mal Schatzi, sie spielen unser Lied! Oder: Verdammt, das war das Lied von mir und meiner Ex. Herr Ober, noch einmal dasselbe und ein Viertel Slibowitz dazu, aber pronto!
Mit verschlurft desperaten sowie betont kühlen und nicht nur insofern latent entmenschlichten Songs, die den Blues haben, ohne sich explizit auf den Blues zu beziehen, hebeln Massive Attack dieses Funktionsprinzip aber ohnehin aus. Zum einen. Zum anderen gibt es gegen die Kraft dieser zwischen den Nebeln von Avalon und dem Industriesmog Bristols alles andere als lustwandelnden Grooves weder Serotonin-Wiederaufnahmehemmer noch Neuroleptika.
Danke, schlecht!
Bereits nach dem metallischen Zittern von "Bulletproof Love", dessen hallverhangener Drum-Sound in der Tradition von Portisheads genialer Comeback-Single "Machine Gun" steht, dem hart stampfenden "Heartcliffe Star" und dem von Horace Andys vibrierendem Timbre in Richtung Gänsehaut getriebenen "16 Seeter" geht es dem Publikum also ganz hervorragend, sprich: schlecht bis sehr schlecht. Passend zur bekifften Psychedelik von Songs wie "Angel", "Risingson", "Mezzanine" oder "Inertia Creeps" stammen die Rauchschwaden im Raum schon lange von unlustigen Zigaretten. Um diese und andere Berauschungsmittel geht es auch auf der LED-Wand im Hintergrund, auf der sich das Böse der Welt zur Themenschau des Grauens versammelt. Krise, Krieg, Terror und Paris Hilton stehen auf der Agenda. Unterhaltung kommt nicht zwangsläufig von Spaß. Im Zweifelsfall kann, darf, muss Kunst auch Wehtun können. Massive Attack lieben und leben diesen Ansatz.
Eingedenk der von Martina Topley-Bird gehauchten Edelballade "Babel" sowie dem Wahnsinn endgültig Tür und Tor öffnenden "Marakesh" sorgt dieser Abend aber zumindest in einer Hinsicht für Hoffnung: Nach "100th Window", dem bereits sechs Jahre alten und kontrovers diskutierten Quasi-Soloalbum von Mastermind Robert "3D" Del Naja sowie der aktuellen und durchaus halbgaren "Splitting The Atom Ep" scheint die Band mit einem neuen, für den Frühling kommenden Jahres angekündigten Album wieder zu Hoch- und Höchstform aufzulaufen. Beatfestspiele, surrende Brachialelektronik, ausufernde Gitarren-Echos. Wir hören Lieder, die es mit heute neu arrangierten Hits wie "Teardrop" oder dem live bereits etwas abgenützten "Unfinished Sympathy" locker aufnehmen können.
"Take a walk, taste the rest? No, take a rest". Wunschloses Unglück, auch auf dem Heimweg durch die Nebel von Simmering.
(Wiener Zeitung, 4.11.2009)
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