Samstag, Mai 29, 2010

Zu viel ist nicht genug

Gogol Bordello riefen in Wien den Underdog World Strike aus

Eugene Hütz muss man sich vorstellen als rastlosen Charakter, der frei nach Allie Parker in Jim Jarmuschs Filmdebüt "Permanent Vacation" überall zu Hause und nirgendwo daheim ist. Doch während der in sich gekehrte Parker seine Ungebundenheit mit dem immerwährenden Lenz verbindet, ist Hütz ein fleißiger Arbeiter, der die Begegnung, das Rampenlicht sucht. Die dabei abgefallene Erfolgsgeschichte darf man als filmreif bezeichnen.

Mit 14 Jahren flüchtet Hütz aus der Ukraine. Nach der Tschernobyl-Katastrophe folgt eine Odyssee durch die Flüchtlingslager Europas mit einem Zwischenstop in Traiskirchen. Erst 1991 erreicht die Familie Vermont, wo sie sich niederlässt. Als Erwachsener übersiedelt Hütz nach New York, "aber es war nichts los". Um diesem Umstand entgegenzuarbeiten, schloss er sich mit befreundeten Musikern kurz. Gemeinsam sollte die ukrainische Folklore mit den Mitteln von Punk oder Dub fortgesetzt werden. Gogol Bordello waren geboren und definierten ihren Sound als "Gypsy Punk".

Mit Alben wie "Voi-La Intruder" oder dem tollen, von Steve Albini produzierten "Gypsy Punks: Underdog World Strike" ging es zügig Richtung Weltkarriere. Vor dem Hintergrund des Balkan-Booms oder der Ostalgie-Welle sprang Madonna auf den Zug auf, ließ die Band in ihrem Film "Filth and Wisdom" auftreten und verschaffte ihr mit dem gemeinsamen Live-Earth-Konzert ein Millionenpublikum.

Wie man sich am Donnerstag im gut gefüllten Gasometer überzeugen konnte, kann das Phänomen Gogol Bordello nur live erschlossen werden. Erst hier erweist sich der Grad des Wahnsinns: Auf CD ist das vergleichsweise Trockenschwimmen. Was das zu siebent aktive Kollektiv gleich eingangs mit "Ultimate", "Not A Crime" oder "Wonderlust King" hinsichtlich Energie und Tempo vorgibt, ist mindestens atemberaubend. Gogol Bordello nehmen keine Gefangenen. Von null auf hundert braucht es eine Sekunde, danach geht es zügig aufwärts. Wie Hütz als manische Springmaus bis zu 200 Konzerte im Jahr übersteht – es bleibt ein Mysterium.

Dass der Sänger zuletzt in Brasilien lebte, hört man den neuen, von Rick Rubin (Slayer, Johnny Cash) produzierten Stücken nur leicht an. Hütz streut Portugiesisch-Vokabeln ein, "Rebellious Love" wird mit einem Latin-Beat unterlegt. Mit reichlich Akkordeon, Geige und einem Bassisten, der sich bisweilen als echter Jazzer erweist, ist die Band dabei am Höhepunkt ihrer Übertreibungskunst angelangt. Zu viel ist nie genug – und einer geht noch leicht. "Baro Foro" dauert eine Viertelstunde, ein jedes Lied hat drei, vier Enden und wird dann doch noch fortgesetzt. Der Sound hat angesichts der Lautstärke schon längst kapituliert, und auch der Percussionist nervt in seinem Nebenjob als Rapper und Shouter gewaltig.

Dem Publikum ist das egal, getanzt wird auch noch in der letzten Reihe. Gogo Bordello in Wien: Nichts weniger als ein Triumph.

(Wiener Zeitung, 29./30.5.2010)

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