Montag, September 19, 2011

Das enorme Hitpotenzial von Grant

Vor 20 Jahren gelang Nirvana mit ihrem zweiten Album "Nevermind" der internationale Durchbruch.

Die Zeitspanne von zwanzig Jahren gilt im Pop nun auch nicht erst seit gestern als eine halbe Ewigkeit. Schließlich schafft es im Dickicht der Veröffentlichungen nur ein Bruchteil der Alben und Songs, längerfristig bedeutsam zu bleiben. Davon einmal ganz abgesehen, dass das Wechselspiel der Moden zumindest temporär sein Urteil vollstreckt: Als Elvis 1977 starb und Punk sich gerade formiert hatte, schien niemand (ewig)gestriger zu sein als der King, dessen Erbe erst viel später rehabilitiert werden konnte.

Wer nun mit Nirvana musikalisch sozialisiert wurde, wird sich pünktlich zum zwanzigsten Geburtstag ihres Albums „Nevermind“ am kommenden Samstag vermutlich zwar auch noch nicht alt fühlen. Und doch gilt es, kurz stutzig werden: Hat er gerade zwanzig Jahre gesagt? Alter! Steinzeit! Vor allem auch die Musikwelt hat sich seither so drastisch verändert, dass der als selbstverständlich hingenommene Status Quo plötzlich wahrhaft modern wirkt. Es geht nicht nur darum, dass der Faktor Zeit im Geschäft mittlerweile noch erheblich bedeutender wurde. Wer heute nach seinen ersten beiden Internet-only-Veröffentlichungen durch den Blog-Kosmos gehypt wird, ist bei Erscheinen seines Debütalbums womöglich auch schon wieder Schnee von gestern. Schnelle neue Welt! Die Jungen müssen tapfer sein.

Die Wiederbeschäftigung mit der Band, um die der sogenannte Grunge-Boom zu Beginn der 90er-Jahre entbrannte, wird vor diesem Hintergrund also weniger die Musik selbst betreffen. Neben dem oberflächlichen Fokus auf Kurt Cobain als tragischen Helden und letzten großen Rock-’n’-Roll-Toten vor dem öffentlichen Sterben einer Amy Winehouse, geht es vor allem um die Pole Underground und Mainstream, als diese noch existierten – und einander mit starren Mienen gegenüberstanden wie die Soldaten am Grenzposten zwischen Nord- und Südkorea.

Es waren die 80er-Jahre, als Kurt Cobain begann, in die Saiten zu greifen, um später mit Nirvana ein als Grunge subsumiertes Genre zu prägen, das den Garagen-Sound der 60er-Jahre mit etwas Metal, viel Punk und noch mehr schlechter Laune kombinierte. Grobschlächtige Riffs, donnerndes Schlagzeug und Alben, denen man ihre Produktionsverhältnisse dank rauschender bis laut aufjohlender Verstärker auch anhören konnte. Zerschlissene Jeans, ausgewaschene T-Shirts und auf der Stirn ein dickes „Fuck You!“ eingebrannt, das den Antizeitgeist einer Bewegung, die nur bedingt auch eine war, vor sich hertrug. Die Zuschreibung, nach Douglas Couplands Roman die „Generation X“ zu sein, die in der Realität stranden musste, korrespondierte mit der Verweigerung, sich nach den erheblich zu langen Regierungen Reagan und Duran Duran noch länger ans Bein pinkeln zu lassen.

Es war die Zeit der Kleinlabels, die Nischenarbeit unter den Vorzeichen der Selbstausbeutung betrieben, es war die Zeit der selbst kopierten Fanzines als Befreiungsorgane der Leidenschaften, eine Zeit, in der Distinktion alles und vor allem noch möglich war. Weit entfernt von gleichmacherischen Portalen und Netzwerken wie Youtube, Myspace oder Facebook galt es, die Individualität zu kultivieren. Die Entdeckung der eigenen besten Band der Welt – eine mühsame Eroberung ohne das Informationsangebot des Internet, das mögliche Helden heute im Handumdrehen entmystifiziert.

In den Proberäumen herrschte reges Treiben. Das geistige Erbe der Punk-Götter, der Heiligen des US-Hardcore oder des seligen Schrammelrocks wurde weitergesponnen. Kurt Cobain tat dies nicht nur mit seiner eigenen musikalischen Deutung. Dank eifrigen Name-Droppings während der kurzen Zeit, die er als Rockstar erleben durfte und musste, Coverversionen und selbst getragener Merchandising-Artikel, war er auch darauf bedacht, dass so unterschiedliche Underground-Heroen wie die Pixies, The Melvins, Hüsker Dü oder The Vaselines einem Millionenpublikum vorgestellt wurden.

Dass Nirvana auch nur in die Nähe einer solchen Position gelangen würden, war 1988 noch undenkbar, als sich die Band Geld leihen musste, um ihr Debütalbum zu finanzieren. Auch die mageren 606,17 US-Dollar, die für die Produktion von „Bleach“ kolportierterweise vonnöten waren, konnte man selbst nicht aufbringen. Immerhin tat die Tourneetätigkeit der Band, die sich auch noch einen Kleinbus mit den Kollegen von Tad teilen musste, ein Übriges, um Kurt Cobains Grant am Lodern zu halten.

„Bleach“, veröffentlicht auf dem Seattler Label Sub Pop, das mit Bands wie besagten Tad oder Mudhoney Brüder im Geiste Nirvanas beheimatete, mag mehr gewesen sein als eine bloße Talentprobe. In seiner Erscheinung als ungehobelter Bolzen, auf dem Kurt Cobain seine Liebe zum Pop noch nicht eingravieren konnte, drang das Album aber kaum weiter vor als zu den einschlägigen Szenekreisen. Cobain, von dem so viele sich selbst widersprechende Zitate überliefert sind, dass etwa auch seine Position zu sich selbst als möglichem Popstar unklar erscheint, begann, die Segel zu setzen. Die Entscheidung, Demos für die Suche nach einem größeren Label zu produzieren, lässt dann doch auf das Verlangen nach einem Karriereschub schließen. In Butch Vig fand man den geeigneten Produzenten, der Cobains neues Bekenntnis zum Song nun auch in radiotauglichere Bahnen lenkte. Und mit Geffen war man bei einem Großlabel gelandet, das einen kräftigen Vorschuss bezahlte und sichtlich Vertrauen in die Band setzte. Die 80.000 Einheiten, die von „Nevermind“ zunächst gepresst wurden, sollten dennoch nicht reichen: 300.000 Exemplare gingen über die Ladentische – pro Woche. „Nevermind“ verdrängte ausgerechnet Michael Jackson von der Spitze der US-Charts, Nirvana wurden zu Superstars, und Grunge war im Mainstream angekommen

Während Songs wie „Come As You Are“ oder „Smells Like Teen Spirit“ als Welthits einer schwermütigen Jugend ungebrochen düster, aber auch eingängig aus dem Radio schallten, plagte sich ein bezüglich seiner Selbstzweifel schon immer gezeichneter Cobain nicht nur mit Sell-out-Vorwürfen. In frühester Kindheit von seinen Erziehungsberechtigten mit Ritalin sediert, bekämpfte er seine chronischen Magenschmerzen nun verstärkt auch mit Heroin. Sein von den Konsequenzen nachhaltig unterstütztes Selbstporträt als „troubled mind“ kann freilich auch aus den Texten zu „Nevermind“ destilliert werden. Tatsächlich sollte man den Versuch, ein Psychogramm Cobains anhand seiner weit interpretierbaren Lyrics zu erstellen, aber besser unterlassen. Schlagzeuger Dave Grohl am Beispiel von „Smells Like Teen Spirit“: „Wenn du Kurt siehst, wie er den Text schreibt, fünf Minuten bevor er ihn erstmals singt, findest du es irgendwie ein bisschen schwierig zu glauben, der Song hätte viel über irgendetwas zu sagen.”

Die Frage, ob man in der Nische sein eigenes Süppchen kochen oder doch besser eine Liaison mit dem Feind schließen sollte, um das System von innen heraus aufzubrechen, versuchte Cobain, mit seinen letzten Songs zu erklären: Auf „In Utero“ gab es mit „Dumb“ oder „Heart-Shaped Box“ zwar auch noch Hits, davor, dazwischen und danach konfrontierte die Band die solchermaßen für sich gewonnenen Massen aber mit bewusst schwierig gehaltenem Material. Nicht nur diese beiden Seelen, ach, in seiner Brust, zerrissen Kurt Cobain, der im April 1994 den vorhersehbaren Rock-’n’-Roll-Tod durch Selbstmord starb, um sich damit für immer bedeutsam zu machen.

Grunge hingegen verschwand bald wieder in der Versenkung, Kurt Cobains Kerndilemma erübrigte sich über eine Entdogmatisierung der Popmusik unter Vorzeichen des heute fließenden Übergangs von Underground und Mainstream. Die historische Bedeutung von „Nevermind“ wie auch seine musikalische Güte bleibt ebenso unbestritten wie die Platte zumeist dennoch im Regal ihrer Besitzer.

Der versöhnliche und emotional eindringliche Abschluss dieser Geschichte sei Dave Grohl überlassen, der „Smells Like Teen Spirit“ bei gemeinsamen Proben mit der letzten Nirvana-Besetzung heuer im Juni erstmals seit 17 Jahren und ohne Gesang wieder spielte. Eine Grenzerfahrung: „It was like a ghost. It was heavy.“

(Wiener Zeitung, 20.9.2011)

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