Vor 20 Jahren gelang Nirvana mit ihrem zweiten Album
"Nevermind" der internationale Durchbruch.
Die Zeitspanne von zwanzig Jahren gilt im Pop nun auch nicht
erst seit gestern als eine halbe Ewigkeit. Schließlich schafft es im Dickicht
der Veröffentlichungen nur ein Bruchteil der Alben und Songs, längerfristig
bedeutsam zu bleiben. Davon einmal ganz abgesehen, dass das Wechselspiel der
Moden zumindest temporär sein Urteil vollstreckt: Als Elvis 1977 starb und Punk
sich gerade formiert hatte, schien niemand (ewig)gestriger zu sein als der
King, dessen Erbe erst viel später rehabilitiert werden konnte.
Wer nun mit Nirvana musikalisch sozialisiert wurde, wird
sich pünktlich zum zwanzigsten Geburtstag ihres Albums „Nevermind“ am kommenden
Samstag vermutlich zwar auch noch nicht alt fühlen. Und doch gilt es, kurz
stutzig werden: Hat er gerade zwanzig Jahre gesagt? Alter! Steinzeit! Vor allem
auch die Musikwelt hat sich seither so drastisch verändert, dass der als
selbstverständlich hingenommene Status Quo plötzlich wahrhaft modern wirkt. Es geht
nicht nur darum, dass der Faktor Zeit im Geschäft mittlerweile noch erheblich
bedeutender wurde. Wer heute nach seinen ersten beiden Internet-only-Veröffentlichungen
durch den Blog-Kosmos gehypt wird, ist bei Erscheinen seines Debütalbums
womöglich auch schon wieder Schnee von gestern. Schnelle neue Welt! Die Jungen
müssen tapfer sein.
Die Wiederbeschäftigung mit der Band, um die der sogenannte
Grunge-Boom zu Beginn der 90er-Jahre entbrannte, wird vor diesem Hintergrund also
weniger die Musik selbst betreffen. Neben dem oberflächlichen Fokus auf Kurt
Cobain als tragischen Helden und letzten großen Rock-’n’-Roll-Toten vor dem
öffentlichen Sterben einer Amy Winehouse, geht es vor allem um die Pole Underground
und Mainstream, als diese noch existierten – und einander mit starren Mienen gegenüberstanden
wie die Soldaten am Grenzposten zwischen Nord- und Südkorea.
Es waren die 80er-Jahre, als Kurt Cobain begann, in die
Saiten zu greifen, um später mit Nirvana ein als Grunge subsumiertes Genre zu
prägen, das den Garagen-Sound der 60er-Jahre mit etwas Metal, viel Punk und
noch mehr schlechter Laune kombinierte. Grobschlächtige Riffs, donnerndes
Schlagzeug und Alben, denen man ihre Produktionsverhältnisse dank rauschender bis
laut aufjohlender Verstärker auch anhören konnte. Zerschlissene Jeans, ausgewaschene
T-Shirts und auf der Stirn ein dickes „Fuck You!“ eingebrannt, das den Antizeitgeist
einer Bewegung, die nur bedingt auch eine war, vor sich hertrug. Die
Zuschreibung, nach Douglas Couplands Roman die „Generation X“ zu sein, die in der Realität stranden
musste, korrespondierte mit der Verweigerung, sich nach den erheblich zu langen
Regierungen Reagan und Duran Duran noch länger ans Bein pinkeln zu lassen.
Es war die Zeit der Kleinlabels, die Nischenarbeit unter den
Vorzeichen der Selbstausbeutung betrieben, es war die Zeit der selbst kopierten
Fanzines als Befreiungsorgane der Leidenschaften, eine Zeit, in der Distinktion
alles und vor allem noch möglich war. Weit entfernt von gleichmacherischen
Portalen und Netzwerken wie Youtube, Myspace oder Facebook galt es, die
Individualität zu kultivieren. Die Entdeckung der eigenen besten Band der Welt
– eine mühsame Eroberung ohne das Informationsangebot des Internet, das
mögliche Helden heute im Handumdrehen entmystifiziert.
In den Proberäumen herrschte reges Treiben. Das geistige Erbe
der Punk-Götter, der Heiligen des US-Hardcore oder des seligen Schrammelrocks wurde
weitergesponnen. Kurt Cobain tat dies nicht nur mit seiner eigenen musikalischen
Deutung. Dank eifrigen Name-Droppings während der kurzen Zeit, die er als Rockstar
erleben durfte und musste, Coverversionen und selbst getragener
Merchandising-Artikel, war er auch darauf bedacht, dass so unterschiedliche Underground-Heroen
wie die Pixies, The Melvins, Hüsker Dü oder The Vaselines einem
Millionenpublikum vorgestellt wurden.
Dass Nirvana auch nur in die Nähe einer solchen Position gelangen
würden, war 1988 noch undenkbar, als sich die Band Geld leihen musste, um ihr
Debütalbum zu finanzieren. Auch die mageren 606,17 US-Dollar, die für die
Produktion von „Bleach“ kolportierterweise vonnöten waren, konnte man selbst
nicht aufbringen. Immerhin tat die Tourneetätigkeit der Band, die sich auch
noch einen Kleinbus mit den Kollegen von Tad teilen musste, ein Übriges, um
Kurt Cobains Grant am Lodern zu halten.
„Bleach“, veröffentlicht auf dem Seattler Label Sub Pop, das
mit Bands wie besagten Tad oder Mudhoney Brüder im Geiste Nirvanas beheimatete,
mag mehr gewesen sein als eine bloße Talentprobe. In seiner Erscheinung als ungehobelter
Bolzen, auf dem Kurt Cobain seine Liebe zum Pop noch nicht eingravieren konnte,
drang das Album aber kaum weiter vor als zu den einschlägigen Szenekreisen.
Cobain, von dem so viele sich selbst widersprechende Zitate überliefert sind,
dass etwa auch seine Position zu sich selbst als möglichem Popstar unklar erscheint,
begann, die Segel zu setzen. Die Entscheidung, Demos für die Suche nach einem
größeren Label zu produzieren, lässt dann doch auf das Verlangen nach einem
Karriereschub schließen. In Butch Vig fand man den geeigneten Produzenten, der
Cobains neues Bekenntnis zum Song nun auch in radiotauglichere Bahnen lenkte. Und
mit Geffen war man bei einem Großlabel gelandet, das einen kräftigen Vorschuss
bezahlte und sichtlich Vertrauen in die Band setzte. Die 80.000 Einheiten, die
von „Nevermind“ zunächst gepresst wurden, sollten dennoch nicht reichen: 300.000
Exemplare gingen über die Ladentische – pro Woche. „Nevermind“ verdrängte ausgerechnet
Michael Jackson von der Spitze der US-Charts, Nirvana wurden zu Superstars, und
Grunge war im Mainstream angekommen
Während Songs wie „Come As You Are“ oder „Smells Like Teen
Spirit“ als Welthits einer schwermütigen Jugend ungebrochen düster, aber auch
eingängig aus dem Radio schallten, plagte sich ein bezüglich seiner
Selbstzweifel schon immer gezeichneter Cobain nicht nur mit Sell-out-Vorwürfen.
In frühester Kindheit von seinen Erziehungsberechtigten mit Ritalin sediert,
bekämpfte er seine chronischen Magenschmerzen nun verstärkt auch mit Heroin. Sein
von den Konsequenzen nachhaltig unterstütztes Selbstporträt als „troubled mind“
kann freilich auch aus den Texten zu „Nevermind“ destilliert werden.
Tatsächlich sollte man den Versuch, ein Psychogramm Cobains anhand seiner weit
interpretierbaren Lyrics zu erstellen, aber besser unterlassen. Schlagzeuger
Dave Grohl am Beispiel von „Smells Like Teen Spirit“: „Wenn du Kurt siehst, wie
er den Text schreibt, fünf Minuten bevor er ihn erstmals singt, findest du es irgendwie
ein bisschen schwierig zu glauben, der Song hätte viel über irgendetwas zu sagen.”
Die Frage, ob man in der Nische sein eigenes Süppchen kochen
oder doch besser eine Liaison mit dem Feind schließen sollte, um das System von
innen heraus aufzubrechen, versuchte Cobain, mit seinen letzten Songs zu
erklären: Auf „In Utero“ gab es mit „Dumb“ oder „Heart-Shaped Box“ zwar auch
noch Hits, davor, dazwischen und danach konfrontierte die Band die solchermaßen
für sich gewonnenen Massen aber mit bewusst schwierig gehaltenem Material.
Nicht nur diese beiden Seelen, ach, in seiner Brust, zerrissen Kurt Cobain, der
im April 1994 den vorhersehbaren Rock-’n’-Roll-Tod durch Selbstmord starb, um
sich damit für immer bedeutsam zu machen.
Grunge hingegen verschwand bald wieder in der Versenkung,
Kurt Cobains Kerndilemma erübrigte sich über eine Entdogmatisierung der
Popmusik unter Vorzeichen des heute fließenden Übergangs von Underground und
Mainstream. Die historische Bedeutung von „Nevermind“ wie auch seine
musikalische Güte bleibt ebenso unbestritten wie die Platte zumeist dennoch im
Regal ihrer Besitzer.
Der versöhnliche und emotional eindringliche Abschluss dieser Geschichte
sei Dave Grohl überlassen, der „Smells Like Teen Spirit“ bei gemeinsamen Proben
mit der letzten Nirvana-Besetzung heuer im Juni erstmals seit 17 Jahren und
ohne Gesang wieder spielte. Eine Grenzerfahrung: „It was like a ghost. It was
heavy.“
(Wiener Zeitung, 20.9.2011)
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