Freitag, März 22, 2013

Die Essenz von 33 Jahren

Mit „Delta Machine“ legen Depeche Mode ihr kohärentestes Album seit 1997 vor: Zum Trademark-Sound gesellen sich auch Überraschungen. 

Die Gefahren bei einer Wiederbegegnung mit der Jugendliebe von einst sind mannigfaltiger Natur. Man könnte sich etwa so sehr auseinanderentwickelt haben, dass die Anziehungskraft vergangener Tage verblasst oder erst gar nicht mehr nachvollziehbar ist. Das gilt für tatsächliche Romanzen ebenso wie für musikalische Bindungen, die sich diesbezüglich als besonders heikel erweisen. Wie viele altgediente Bands etwa können von sich behaupten, ihren gut abgesteckten Fankreisen mit neuen Alben mehr abzuringen als freundlichen Applaus, der gleichbedeutend ist mit der wesentlich höheren Vorfreude auf ein hoffentlich baldiges Greatest-Hits-Konzert?

Im Falle von Depeche Mode drohte die Entwicklung zuletzt in eine ähnliche Richtung zu verlaufen. Nach den zwischen 1986 und 1997 erschienenen Manifesten „Black Celebration“, „Music For The Masses“, „Violator“, „Songs Of Faith And Devotion“ sowie auch und vor allem dem düsteren „Ultra“, das nach dem drogenbedingten Beinahe-Tod von Sänger Dave Gahan fast nicht erschienen wäre, setzte es zwar auch im Spätwerk keine schlechten Alben. Der lichtdurchflutete Sound von „Exciter“ (2001), die Rückbesinnung auf dunkle Kernkompetenzen mit „Playing The Angel“ (2005) und vor allem das 2009 erschienene „Sounds Of The Universe“ aber ließen die alte Grandezza mitunter doch deutlich vermissen. 

Synthie-Blues 

Dass Dave Gahan, der die Produktionen als Neo-Songwriter für drei Songs pro Album ab 2005 zusätzlich nach unten nivellierte, danach erfolgreich mit den Soulsavers kollaborierte und Martin Gore von seinem einstigen Bandkollegen Vince Clarke zur Gründung des Techno-Joint-Ventures VCMG überredet wurde, durfte Fans aber erneut hellhörig machen. Immerhin standen Depeche Mode ab Anfang der 1990er-Jahre für eine gewinnende Mischung aus unterkühlter Elektronik und beseeltem Blues. Mit „Delta Machine“ löst ihr  nun erschienenes 13. Album entsprechend ein, was schon der Titel vorwegnahm: Der Ur-Sound aus dem Mississippi-Delta ist ebenso zurück (und dabei expliziter denn je zu hören), wie das räudig-rohe Knarzen und Knattern der Analoggerätschaft wieder im Vordergrund steht. Keine Frage: Das dritte von Ben Hillier produzierte Album gehört in Sachen Sounddesign mit zum Besten im Werkkatalog des Trios – was auch mit der Unterstützung durch Christoffer Berg zu tun haben dürfte, der bereits die schwedischen Elektropop-Adepten The Knife und deren Schwesternprojekt Fever Ray fantastisch klingen ließ. 

Die Fährte, die „Heaven“ als in ihrer Balladenform untypische Vorabsingle ausgelegt hatte, erweist sich für den Rest von „Delta Machine“ schnell als trügerisch: Von Martin Gore als „our take on 70s rock“ und sogar über einen Rod-Stewart-Vergleich beschrieben, hat man es mit der organischen Ausnahme inmitten einer brodelnden Soundlava zu tun, die bittersüßen, stark auf die „Black Celebration“-Ära verweisenden Elektropop neben erfreulich experimentelle Soundtüfteleien stellt – die nur als „sophisticated“ zu bezeichnenden Ergebnisse dieser Schiene wiederum finden ihr Gegenstück in „Soothe My Soul“, dessen sexuell konnotierter Call-and-response-Refrain auf den Spuren von „Personal Jesus“ ins Stadion schielt, als zweite Single explizit Spaß machen soll und mit Dave Gahan als lechzendem Lumpi („I’m coming for you / My body’s hungry / I’m coming for you / Like a junkie“) den latent würdelosen Teil des Albums verkörpert. Inhaltlich in eine ähnliche Richtung bewegt sich „Slow“, das, von Gore bereits zu Zeiten von „Songs Of Faith And Devotion“ geschrieben, ein Bluesriff aus der Schule John Lee Hookers am Ende gegen elektronisch grundierte Glam-Rock-Drastik auffahren lässt.

Die Klugheit des Albums, das sich ohne Weiteres in die Top 5 von Depeche Mode einreihen wird, zeichnet sich hingegen schon mit dem Auftakt ab. „Welcome To My World“ beginnt mit einer betont ungeraden elektronischen Bassdrum und spartanischem Synthie-Surren, ehe der Song mit Streicherarrangements und Gores prototypischem Hintergrundgesang zur Hymne ansetzt – gerade wo der Chef-Songwriter seine diesbezüglichen Möglichkeiten mit sämtlichen Trümpfen ausspielt, kippt die Nummer aber kurz ins Unbehagliche, um nur wenig später auf den Spuren von Kraftwerk durch Elektroland zu tuckern. Der bewusste Weg vom Plakativen hin zum Bruch erweckt nicht nur an dieser Stelle den Anschein, als würde die Band den einen oder anderen Hit auf „Delta Machine“ bewusst verhindern. Zugunsten des Albums als Gesamtwerk und der Immer-und-immer-wieder-Hörbarkeit der dreizehn Songs allerdings wird damit auch jener zeitgemäße „Pop der großen Gesten“ Lügen gestraft, unter dem ungleich dienstjüngere Bands wie The Killers heute schlimm schablonierten Ausschuss produzieren. 

Innerer Friede 

Den experimentellsten Teil des Albums verantwortet „My Little Universe“, das Depeche Mode den Häcksel-Sound von Radiohead und Thom Yorke annehmen lässt, um dennoch oder gerade deshalb nach klassischen Depeche Mode zu klingen – und auch die von Gore geschmetterte State-of-the-Art-Ballade „The Child Inside“ ist eindeutig der sublimen Ecke zuzurechnen. Bei „Angel“ wiederum mimt Dave Gahan den besessenen „Preacher Man“ auf dem Pfad der Erlösung, der über verführerisch pulsierende Synthie-Spuren hin zum Befreiungsblues des Refrains wandert: „Oh leave me here forevermore / I’ve found the peace I’ve been searching for“, das steht prototypisch für die Songtexte Gores, die heute vor allem um inneren Frieden kreisen. Gleichermaßen erfreulich und dabei sehr überraschend sind zudem die Fortschritte von Dave Gahan als Songwriter, der (unterstützt von Kreativpartner Kurt Uenala) mit „Should Be Higher“ seinen ersten Allzeitklassiker in  die Bandgeschichte einschreibt.

Auch aufgrund so nicht erwartbarer Synthiepop-Melodramen wie „Alone“ und einmal abgesehen von dem als B-Seite womöglich besser aufgehobenen „Soft Touch/Raw Nerve“ ist „Delta Machine“ das Album geworden, an das Fans nicht mehr zu hoffen wagten – wir hören die Essenz, wir hören den Herzschlag von mittlerweile 33 Jahren Depeche Mode. 

Depeche Mode: Delta Machine (Sony Music) 

(Wiener Zeitung, 23./24.3.2013)

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