Mittwoch, März 20, 2013

Herzmusik oder: Befreiung ist ein Lächeln in der U3

Die Kärntner Ausnahmeband Naked Lunch in der Wiener Arena 

Dass Naked Lunch alles andere als wöchentlich auf den Konzertbühnen zwischen Feldkirch und Oberwart stehen, hat seinen größten Vorteil in der Bewahrung von Leidenschaft und Hunger. Es geht live nicht nur darum, ein neues – und im Falle von „All Is Fever“ erneut sehr gutes – Album zu präsentieren. Auch und vor allem geht es darum, sich selbst und die eigene Geschichte zu feiern. Immerhin erleben Naked Lunch als von künstlerischen und privaten Tiefschlägen gebeutelte Band mehr als einen zweiten Frühling, seit sie sich mit dem Album „Songs For The Exhausted“ im Jahr 2004 neu erfanden. In der restlos ausverkauften Wiener Arena nimmt sich das Quartett entsprechend gleich 130 Minuten lang Zeit, um nichts weniger zu demonstrieren als seine Ausnahmestellung im heimischen Gitarrenfach.

„Keep It Hardcore“ erweist sich als denkbar bester Auftakt, wird dabei doch der Kampfgeist beschworen, der Naked Lunch das Überleben ermöglichte. Der freie Fall und das Wieder-Aufstehen-Müssen, auch im Sinne archaischer Bergbesteigungsmotivik, sind als Leitbilder ebenso zentral wie folgender Umstand: Wenn alles zum Heulen ist, kann es nur besser werden. Naked Lunch ermöglichen mit ihren durch das Jammertal ins Licht schreitenden Texten jene Katharsis, die sich musikalisch auch im euphorischen Ausbruch veräußern darf – das liturgisch mit Orgel inszenierte „Keep It Hardcore“ ist auch dafür prototypisch. Am Ende stehen die überbordenden, tendenziell mehr um Herzerwärmung als um den richtigen Ton bemühten Stoßseufzer, die nicht nur um die Beach Boys Bescheid wissen. Als Teil des „anderen Kärntens“ einst mit einer schwierigen Jugend in der Provinz konfrontiert, offenbaren Naked Lunch darin auch den Nachhall zweckentfremdeter Männerchöre aus der südlichen Heimat. Siehe auch: Andachtsmusi, Innigkeit. In einer dringenden Durchsage bezüglich längst überfälliger Wahlergebnisse gibt sich Oliver Welter entsprechend erfreut, „als Kärntner erstmals befreit aufspielen zu können“. 

Während Songs wie das in bester Boygroup-Choreografie gegebene „The Funeral“ Depressionen und Selbstmord verhandeln, führt die Eigen-Euphorisierung per Musik von der Bühne herab zu einer sonderbaren Bild-Text-Schere mit Herwig Zamernik als strahlendstem Schmerzensmann der Welt. Aber auch Oliver Welter untermauert den gewinnenden Charakter des Abends mit großem Charisma und emphatisch-energischem Agieren.

Mit neu arrangierten Nummern aus „Songs For The Exhausted“ und „This Atom Heart Of Ours“ aus 2007 ist alles dabei – elektronische Beats („My Country Girl“) stehen neben atmosphärischen Schleichern („Town Full Of Dogs“), zu expliziten Popsongs wie „Military Of The Heart“ gesellt sich das live in Richtung Lärmrock geprügelte „King George“, und „God“ donnert mit seinen zäh wie Honig gleitenden Effektpedalgitarren durch die Halle. Wir hören Herzmusik, die niemals auf den Kopf vergisst. 

Die melodieselige Beatles-Studie „Shine On“, das beseelt stampfende „My Lonely Boy“ und die Midtempo-Tragödie „Hammer It All“ erklären die Bandbreite des nichtsdestotrotz homogenen „All Is Fever“, dessen bei Phil Spectors Wall of Sound andockende Single „The Sun“ zu güldenem Konfettiregen den Konzerthöhepunkt markiert.

Danach sind alle sehr glücklich. Befreiung ist ein Lächeln in der Wiener U3.

(Wiener Zeitung, 21.3.2013)

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