Die Kärntner
Ausnahmeband Naked Lunch in der Wiener Arena
Dass
Naked Lunch alles andere als wöchentlich auf den Konzertbühnen zwischen
Feldkirch und Oberwart stehen, hat seinen größten Vorteil in der Bewahrung von
Leidenschaft und Hunger. Es geht live nicht nur darum, ein neues – und im Falle
von „All Is Fever“ erneut sehr gutes – Album zu präsentieren. Auch und vor
allem geht es darum, sich selbst und die eigene Geschichte zu feiern. Immerhin erleben
Naked Lunch als von künstlerischen und privaten Tiefschlägen gebeutelte Band mehr
als einen zweiten Frühling, seit sie sich mit dem Album „Songs For The
Exhausted“ im Jahr 2004 neu erfanden. In der restlos ausverkauften Wiener Arena
nimmt sich das Quartett entsprechend gleich 130 Minuten lang Zeit, um nichts
weniger zu demonstrieren als seine Ausnahmestellung im heimischen Gitarrenfach.
„Keep
It Hardcore“ erweist sich als denkbar bester Auftakt, wird dabei doch der
Kampfgeist beschworen, der Naked Lunch das Überleben ermöglichte. Der freie
Fall und das Wieder-Aufstehen-Müssen, auch im Sinne archaischer Bergbesteigungsmotivik,
sind als Leitbilder ebenso zentral wie folgender Umstand: Wenn alles zum Heulen
ist, kann es nur besser werden. Naked Lunch ermöglichen mit ihren durch das
Jammertal ins Licht schreitenden Texten jene Katharsis, die sich musikalisch auch
im euphorischen Ausbruch veräußern darf – das liturgisch mit Orgel inszenierte „Keep
It Hardcore“ ist auch dafür prototypisch. Am Ende stehen die überbordenden,
tendenziell mehr um Herzerwärmung als um den richtigen Ton bemühten
Stoßseufzer, die nicht nur um die Beach Boys Bescheid wissen. Als Teil des
„anderen Kärntens“ einst mit einer schwierigen Jugend in der Provinz konfrontiert,
offenbaren Naked Lunch darin auch den Nachhall zweckentfremdeter Männerchöre aus
der südlichen Heimat. Siehe auch: Andachtsmusi, Innigkeit. In einer dringenden
Durchsage bezüglich längst überfälliger Wahlergebnisse gibt sich Oliver Welter
entsprechend erfreut, „als Kärntner erstmals befreit aufspielen zu können“.
Während
Songs wie das in bester Boygroup-Choreografie gegebene „The Funeral“ Depressionen
und Selbstmord verhandeln, führt die Eigen-Euphorisierung per Musik von der
Bühne herab zu einer sonderbaren Bild-Text-Schere mit Herwig Zamernik als
strahlendstem Schmerzensmann der Welt. Aber auch Oliver Welter untermauert den
gewinnenden Charakter des Abends mit großem Charisma und emphatisch-energischem
Agieren.
Mit
neu arrangierten Nummern aus „Songs For The Exhausted“ und „This Atom Heart Of
Ours“ aus 2007 ist alles dabei – elektronische Beats („My Country Girl“) stehen
neben atmosphärischen Schleichern („Town Full Of Dogs“), zu expliziten Popsongs
wie „Military Of The Heart“ gesellt sich das live in Richtung Lärmrock
geprügelte „King George“, und „God“ donnert mit seinen zäh wie Honig gleitenden
Effektpedalgitarren durch die Halle. Wir hören Herzmusik, die niemals auf den
Kopf vergisst.
Die
melodieselige Beatles-Studie „Shine On“, das beseelt stampfende „My Lonely Boy“
und die Midtempo-Tragödie „Hammer It All“ erklären die Bandbreite des
nichtsdestotrotz homogenen „All Is Fever“, dessen bei Phil Spectors Wall of Sound
andockende Single „The Sun“ zu güldenem Konfettiregen den Konzerthöhepunkt
markiert.
Danach sind alle sehr glücklich. Befreiung ist ein
Lächeln in der Wiener U3.
(Wiener Zeitung, 21.3.2013)
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