Jetzt auch mit
Bongos: Arcade Fire aus Montreal veröffentlichen ihr viertes Album
- Mit „Reflektor“ bringen
Arcade Fire große Themen auf den Dancefloor
Bereits
die Auftaktsingle ließ für das nun vorliegende Album nur das Beste erahnen. Mit
dem nach der Platte selbst betitelten „Reflektor“ ist Arcade Fire das
Kunststück gelungen, sich neu zu erfinden, ohne aber auf die alten und in
Sachen Kundenbindung zentralen Kernkompetenzen zu verzichten. Im Gegenteil: Das
dieser Musik eigene, eigentümliche Gefühl der Erhabenheit strahlte in gewohnter
Weise durch – und das war neu – den Trockeneisnebel, der das sonst so
ausgelassene Treiben auf der Tanzfläche mit Dampf und Dunst aus einem wie auch
immer gearteten Schattenreich versah.
Liebe zum Detail
„Entre le royaume des vivants et des morts“
(„Zwischen dem Königreich der Lebenden und der Toten“) – ein erster Hinweis auf
die (großen) Themen des Albums. Die Frage nach Himmel und Hölle oder dem Weg
davor, der niemals ein leichter ist, stand und steht auf dem Programm. Die
Single – und zahlreiche Momente des mit einer Spielzeit von einer Stunde und fünfzehn
Minuten überbordend ausgefallenen Doppelalbums – allerdings grooven mit Bongos,
rotierenden Dancefloor-Bässen, Wave-lastigen Keyboards und knackigen Drums auf
den Spuren historischer Discomusik aus den Boxen. James Murphy, der sich
bereits mit seinem LCD Soundsystem am experimentellen Disco-Funk der Talking
Heads abarbeitete und die Kawummsgitarre mit einem Gefühl von großem Pop für
die Clubs collagierte, hat im Verbund mit der Band und deren Stammproduzenten
Markus Dravs alles richtig gemacht. Man hätte mit dieser auf dem Papier buchstäblich
schwierigen Kombination auch glorreich scheitern können.
Im
Gegensatz zu den Vorgängeralben „Funeral“ (2004), „Neon Bible“ (2007) und „The
Suburbs“ (2010), auf denen Arcade Fire maximale Unmittelbarkeit walten ließen,
um mit mächtigen Weltumarmungsmelodien vor allem auch gegen den Schmerz
anzuspielen, fällt „Reflektor“ weniger mit der Brechstange ins Haus. Gelegentlich
lässt man sich im Songaufbau Zeit und manchmal siegen die Effekte über den
Effekt. Nicht nur die produktionsseitige Liebe zum Detail, die selbst die
linear gehaltenen Songs zu Metamorphosen zwingt, verleitet zum Immer-wieder-Hören
– und lässt auch dann noch neue Nuancen erkennen.
Äther-Rauschen
Stilistisch
ist das Album gleichfalls ergiebig. Die Klagenummer „We Exist“ etwa kommt als
frei fließender Popsong für nächtliche Autofahrten daher, das verzerrte
„Flashbulb Eyes“ schließt die Rara-Musik Haitis mit jamaikanischem Dub-Reggae
kurz und das wild rasende „Here Comes The Night Time“ demonstriert seine
Neigung zum polyrhythmischen Afropop. Nur als Gemälde von einem Song ist das
eklektische „Joan Of Arc“ zu bezeichnen, das aus ungleich gröberem Holz
geschnittene „Normal Person“ wiederum nimmt den Schweiß vorweg, der bei seiner Livedarbietung
im Kollektiv fließen wird.
Während
die Band mit einer Verhandlung des nur scheinbar „Normalen“ hier ausnahmsweise auch
die Lacher auf ihrer Seite hat, wird es im zweiten Teil mit der für die Endzeit
stehenden „Night Time“ allerdings Ernst. Mit einer Aneignung der alten
Geschichte von Orpheus und Eurydike wird der drohende Untergang über eine scheiternde
Liebe erzählt. Der dabei besungene „Awful Sound“ ist der Moment, an dem es exakt
nichts mehr zu sagen gibt. Stille. Orpheus dreht sich um. Den Abschluss macht
ein Rückwärtsloop, der das besungene Schattenreich als Rauschen des Äthers einfängt.
Mit
„Afterlife“ haben Arcade Fire übrigens wieder eine Generationshymne
geschrieben, die bleiben wird. Das Jenseits glüht, wenn wir es erobern.
Arcade Fire:
Reflektor (Universal)
(Wiener Zeitung, 31.10.2013)
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