Mittwoch, Oktober 30, 2013

Das Jenseits glüht

Jetzt auch mit Bongos: Arcade Fire aus Montreal veröffentlichen ihr viertes Album

- Mit „Reflektor“ bringen Arcade Fire große Themen auf den Dancefloor 

Bereits die Auftaktsingle ließ für das nun vorliegende Album nur das Beste erahnen. Mit dem nach der Platte selbst betitelten „Reflektor“ ist Arcade Fire das Kunststück gelungen, sich neu zu erfinden, ohne aber auf die alten und in Sachen Kundenbindung zentralen Kernkompetenzen zu verzichten. Im Gegenteil: Das dieser Musik eigene, eigentümliche Gefühl der Erhabenheit strahlte in gewohnter Weise durch – und das war neu – den Trockeneisnebel, der das sonst so ausgelassene Treiben auf der Tanzfläche mit Dampf und Dunst aus einem wie auch immer gearteten Schattenreich versah. 

Liebe zum Detail 

Entre le royaume des vivants et des morts“ („Zwischen dem Königreich der Lebenden und der Toten“) – ein erster Hinweis auf die (großen) Themen des Albums. Die Frage nach Himmel und Hölle oder dem Weg davor, der niemals ein leichter ist, stand und steht auf dem Programm. Die Single – und zahlreiche Momente des mit einer Spielzeit von einer Stunde und fünfzehn Minuten überbordend ausgefallenen Doppelalbums – allerdings grooven mit Bongos, rotierenden Dancefloor-Bässen, Wave-lastigen Keyboards und knackigen Drums auf den Spuren historischer Discomusik aus den Boxen. James Murphy, der sich bereits mit seinem LCD Soundsystem am experimentellen Disco-Funk der Talking Heads abarbeitete und die Kawummsgitarre mit einem Gefühl von großem Pop für die Clubs collagierte, hat im Verbund mit der Band und deren Stammproduzenten Markus Dravs alles richtig gemacht. Man hätte mit dieser auf dem Papier buchstäblich schwierigen Kombination auch glorreich scheitern können.

Im Gegensatz zu den Vorgängeralben „Funeral“ (2004), „Neon Bible“ (2007) und „The Suburbs“ (2010), auf denen Arcade Fire maximale Unmittelbarkeit walten ließen, um mit mächtigen Weltumarmungsmelodien vor allem auch gegen den Schmerz anzuspielen, fällt „Reflektor“ weniger mit der Brechstange ins Haus. Gelegentlich lässt man sich im Songaufbau Zeit und manchmal siegen die Effekte über den Effekt. Nicht nur die produktionsseitige Liebe zum Detail, die selbst die linear gehaltenen Songs zu Metamorphosen zwingt, verleitet zum Immer-wieder-Hören – und lässt auch dann noch neue Nuancen erkennen. 

Äther-Rauschen 

Stilistisch ist das Album gleichfalls ergiebig. Die Klagenummer „We Exist“ etwa kommt als frei fließender Popsong für nächtliche Autofahrten daher, das verzerrte „Flashbulb Eyes“ schließt die Rara-Musik Haitis mit jamaikanischem Dub-Reggae kurz und das wild rasende „Here Comes The Night Time“ demonstriert seine Neigung zum polyrhythmischen Afropop. Nur als Gemälde von einem Song ist das eklektische „Joan Of Arc“ zu bezeichnen, das aus ungleich gröberem Holz geschnittene „Normal Person“ wiederum nimmt den Schweiß vorweg, der bei seiner Livedarbietung im Kollektiv fließen wird.

Während die Band mit einer Verhandlung des nur scheinbar „Normalen“ hier ausnahmsweise auch die Lacher auf ihrer Seite hat, wird es im zweiten Teil mit der für die Endzeit stehenden „Night Time“ allerdings Ernst. Mit einer Aneignung der alten Geschichte von Orpheus und Eurydike wird der drohende Untergang über eine scheiternde Liebe erzählt. Der dabei besungene „Awful Sound“ ist der Moment, an dem es exakt nichts mehr zu sagen gibt. Stille. Orpheus dreht sich um. Den Abschluss macht ein Rückwärtsloop, der das besungene Schattenreich als Rauschen des Äthers einfängt.

Mit „Afterlife“ haben Arcade Fire übrigens wieder eine Generationshymne geschrieben, die bleiben wird. Das Jenseits glüht, wenn wir es erobern. 

Arcade Fire: Reflektor (Universal) 

(Wiener Zeitung, 31.10.2013)

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