Freitag, Januar 10, 2014

Vorsicht, Trend!

„Sound of 2014“: Auch heuer verkündet die BBC die Pop-Durchstarter von morgen 

-        Sieger des diesjährigen BBC-Polls ist der Brite Sam Smith 

Bereits die ältesten heute bekannten und auf die frühen Hochkulturen Ägyptens zurückgehenden Kalender belegen das urmenschliche Interesse, in die Zukunft zu blicken. Dieses mag mit zunehmendem Alter eventuell ein klein wenig abnehmen und zu Sätzen führen, die mit „Wir werden es nicht mehr erleben“ beginnen. Aber auch schon zuvor ist es ganz dem individuellen Standpunkt geschuldet, ob der Blick nach vorne zuversichtlich („Du kannst es dir vorstellen. Also kannst es auch bauen!“) oder, angesichts der Verhältnisse, zweckpessimistisch ausfällt. Eine diesbezügliche „Befürchtung“ wusste einst bereits Karl Valentin auf den Punkt zu bringen. Sie lautet: „Hoffentlich wird es nicht so schlimm, wie es schon ist!“ 

Erschwerte Prognosen 

Um Genaueres über die Zukunft aussagen zu können, bedurfte es aber einer radikalen Erfindung. Mit der Einführung der Zeitreise in die Literatur durch H. G. Wells, der mit seinem Science-Fiction-Roman „The Time Machine“  im Jahre 1895 Pionierarbeit leistete, waren weder Utopie noch Dystopie weiter Grenzen gesetzt. Vor allem durfte die Zukunft ab nun auch über gezielte Manipulationen der Vergangenheit gestaltet und ummodelliert werden. Das musste man sich erst einmal vorstellen können!

Die Etablierung von Erwerbs- und Beschäftigungsmöglichkeiten im Umfeld der Trend- und Zukunftsforschung sowie in sogenannten Think-Tanks (nicht nur) politischer Parteien mutet vergleichsweise profan und erheblich Hollywood-untauglicher an. Allerdings bestätigt sie den Trend zum Trend nachdrücklich wie sonst nur ein Besuch beim Friseur. Dort bildet man sich etwa mit allwissenden Modezeitschriften dahingehend fort, dass die, ja, „Trendfarben“ „Radiant Orchid“ und „First Date Violet“ im Jahre 2014 die Wangen und das Haupthaar der Frauenwelt dominieren werden. Wer hätte das gedacht?

Ehe weitere Elemente aus der Science-Fiction-Literatur Realität und somit etwa auch Algorithmen an die Stelle von höchstens als Fehlerquelle verlässlichen Experten treten werden, bleibt die akkumulierte Branchenmeinung das Maß aller Dinge. In Sachen Pop etwa ist die BBC mit ihrem jährlich abgehaltenen „Sound of …“-Poll mindestens tonangebend, wenn es um die Prognose der Newcomer für die Folgesaison geht. Dabei ist ein gewisser Erfolgsgarant, dass die massiv erhöhte Aufmerksamkeit per Nominierung für selbsterfüllende Prophezeiungen sorgt. An Namen wie 50 Cent oder Adele gab und gibt es etwa tatsächlich kein Vorbeikommen, während stagnierende Karrieren von weiteren einstigen Listensiegern wie Little Boots aber auch von der Möglichkeit eines temporären Hypes künden. 

Starke Stimmen 

Aus der am Freitag vervollständigten Prognose für das Jahr 2014 jedenfalls lässt sich nun etwa ableiten, dass die Experten heuer bevorzugt auf ausdrucksstarke Stimmen setzen – und im Grunde keine Gitarren mehr hören wollen. Auf dem fünften und letzten Platz der Shortlist ist mit George Ezras akustischem Songwriting nur ein diesbezüglicher Act vertreten. Gediegen-gefühlige Klavierkompositionen (Sampha, Platz 4), unterkühlt-modernistischer R&B-Pop mit Neigung zu dunklen Beats (Banks, Platz 3) und hübscher, auch für den erlösträchtigeren Erwachsenenmarkt bestens geeigneter R&B in der Hausmachervariante dominieren das Bild – Letztgenannter mit der 19-jährigen Britin Ella Eyre, die stimmlich durchaus an Amy Winehouse erinnert und genau wie diese oder Adele die BRIT School for Performing Arts & Technology absolvierte.

Allen gemeinsam ist der standesgemäße Mangel an bisher veröffentlichtem Material. So mag der 21-jährige britische Diesjahressieger Sam Smith zwar bereits als Gaststimme von Acts wie Disclosure oder Naughty Boy vorstellig geworden sein. Die wenigen verfügbaren Songs unter eigenem Namen sind zwischen schwer verdaulichem Balladenkitsch und näher am Puls der Zeit gehaltenem R&B allerdings noch schwer einzuschätzen. Mehr Aufschluss sollte das Debütalbum geben, dessen Veröffentlichung vom Platten-Major Universal für Ende Mai anberaumt wurde.

Nach den zuletzt gekrönten, letztlich unspektakulären Fleetwood-Mac-Wiedergängen von Haim aus Kalifornien wäre es an der Zeit für etwas mehr Substanz an der Spitze. Diese scheint fürs Erste allerdings nicht in Sicht – zumal ohne Zeitmaschine.

(Wiener Zeitung, 11./12.1.2014)

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