Dienstag, Juni 10, 2014

Gekommen, um zu leiden!

Trent Reznor gastierte mit seinen wiederbelebten Nine Inch Nails in Wien 

Die Theorie, der Schmerz sei eine sämtlichen Lebewesen seit Anbeginn ihrer Spezies inhärente Nebenwirkung von Empfindungsmöglichkeiten, die zwangsläufig auch ihr Gutes haben – menschlich betrachtet in etwa: einen Eislutscher verschlingen im Park, wärmender Thermendampf im sibirischen Winter, eine liebkosende Hand vielleicht –, wird hier widerlegt. Erfunden wurde der Schmerz von Trent Reznor nach einiger Vorarbeit als Kopf und einziges Fixmitglied seiner Nine Inch Nails spätestens mit dem Göttersong „Hurt“ 1994. Vor allem dank einer monumentalen, von Johnny Cash als letzte Single zu Lebzeiten veröffentlichten Coverversion acht Jahre später und der Multiplizierung der Emotionen über den Topos des gezeichneten alten Mannes auf abschließender Rückschau ist bis heute für Gänsehaut gesorgt. 

Starke Rückkehr 

Schmerz, Not, Zores; Qual, Pein, Dolores. Trent Reznor ist gekommen, um zu leiden. Seit 1989 und dem Debütalbum „Pretty Hate Machine“ geht es in sadomasochistischer Selbstgeißelungsmanier zwischen Unterwerfungswunsch und gleichzeitigen „Egoproblemen“ immer auch um zerstörte Seelen und zerrissene Geister. Nach dem programmatischen Konzeptalbum „The Downward Spiral“ (1994) und seiner biografischen Übersetzung in Drogenproblemen musste spätestens aber nach dem Meisterwerk „The Fragile“ ab den frühen Nullerjahren in Sachen Lebensführung umgedacht werden. Reznor ging zunächst auf Entzug, dann in den Fitnessclub und als kompensierendes Arbeitstier in Körperform des unglaublichen Hulk wieder ins Studio. Als Cornetto-Mann, der nun immer auch sein eigener Security sein konnte, brachte er überbordende Arbeiten wie das instrumentale Vierfachalbum „Ghosts I-IV“ auf alternativem Vertriebsweg an der althergebrachten Musikindustrie vorbei auf den Markt. Danach folgten die Gründung der Zweitband How To Destroy Angels sowie eine Phase mit im Falle von „The Social Network“ auch Oscar-prämierten Soundtrackarbeiten mit Atticus Ross. Die Rückkehr der Nine Inch Nails mit dem Album „Hesitation Marks“ wiederum fiel im Vorjahr überraschend stark und den mittlerweile gefundenen privaten Frieden Reznors ignorierend aus. Immerhin ging es darum, bereits mit dem Wunden aus Selbstmordversuchen fokussierenden Albumtitel an ein einst vertontes Gefühl offener Pulsadern anzuknüpfen. 

Wunschloses Unglück 

Auf Kosten eines dann eh guten Best-of-Sets quer durch alle Schaffensphasen wird das neue Material vor atemberaubenden Visuals in Wien aber nur in homöopathischen Dosen gereicht. Tracknahe, am Puls der Zeit produzierte Songs mit hübscher Pling-Plong-Elektronik und den entsprechenden Tucker- und Pluckerbeats aus dem Computer wie „Copy Of A“ oder „Disappointed“ etwa sind mit dabei. Dazu wird in bester Rockermanier gerne auch eine Stromgitarre gewürgt, die wie einst bei Modern Talking aber unhörbar bleibt. Das ändert sich bei auf Frontalangriff gestellten Klassikern wie „Wish“ oder „March Of The Pigs“, bei denen Reznor den Raging Bull geben darf. Die Medikation stimmt, die Stimmung passt, das Set „fährt“. 7500 Konzertbesucher fühlen sich schlecht, also super. Leiden macht Spaß!

Es setzt eine neu arrangierte Version von „Sanctified“ oder das mächtig stampfende „Closer“ als diesseitige Leidensauszeiten in der Lust – sowie „Survivalism“, „The Beginning Of The End“ und „The Warning“ als Zeugnisse Reznors paranoider Phase mit dem orwellʼschen Album „Year Zero“. Aus diesem markiert „The Great Destroyer“ mit seiner elektronischen Frickelorgie zum Schluss das immerwährende Ende. Der Laptop geht durch, die Welt geht unter.

Im Zugabenteil folgt nach einem auf „Fuzz“ gestellten „The Day The World Went Away“ natürlich noch „Hurt“, bei dem man Johnny Cash nicht aus dem Ohr bekommt. Das ist schlecht für Trent Reznor, heute aber auch schon egal. Es ist der Abend des wunschlosen Unglücks.

(Wiener Zeitung, 11.6.2014) 

Keine Kommentare: