Trent Reznor
gastierte mit seinen wiederbelebten Nine Inch Nails in Wien
Die
Theorie, der Schmerz sei eine sämtlichen Lebewesen seit Anbeginn ihrer Spezies
inhärente Nebenwirkung von Empfindungsmöglichkeiten, die zwangsläufig auch ihr
Gutes haben – menschlich betrachtet in etwa: einen Eislutscher verschlingen im
Park, wärmender Thermendampf im sibirischen Winter, eine liebkosende Hand
vielleicht –, wird hier widerlegt. Erfunden wurde der Schmerz von Trent Reznor
nach einiger Vorarbeit als Kopf und einziges Fixmitglied seiner Nine Inch Nails
spätestens mit dem Göttersong „Hurt“ 1994. Vor allem dank einer monumentalen,
von Johnny Cash als letzte Single zu Lebzeiten veröffentlichten Coverversion
acht Jahre später und der Multiplizierung der Emotionen über den Topos des
gezeichneten alten Mannes auf abschließender Rückschau ist bis heute für
Gänsehaut gesorgt.
Starke Rückkehr
Schmerz,
Not, Zores; Qual, Pein, Dolores. Trent Reznor ist gekommen, um zu leiden. Seit
1989 und dem Debütalbum „Pretty Hate Machine“ geht es in sadomasochistischer
Selbstgeißelungsmanier zwischen Unterwerfungswunsch und gleichzeitigen
„Egoproblemen“ immer auch um zerstörte Seelen und zerrissene Geister. Nach dem
programmatischen Konzeptalbum „The Downward Spiral“ (1994) und seiner
biografischen Übersetzung in Drogenproblemen musste spätestens aber nach dem
Meisterwerk „The Fragile“ ab den frühen Nullerjahren in Sachen Lebensführung
umgedacht werden. Reznor ging zunächst auf Entzug, dann in den Fitnessclub und
als kompensierendes Arbeitstier in Körperform des unglaublichen Hulk wieder ins
Studio. Als Cornetto-Mann, der nun immer auch sein eigener Security sein
konnte, brachte er überbordende Arbeiten wie das instrumentale Vierfachalbum
„Ghosts I-IV“ auf alternativem Vertriebsweg an der althergebrachten
Musikindustrie vorbei auf den Markt. Danach folgten die Gründung der Zweitband
How To Destroy Angels sowie eine Phase mit im Falle von „The Social Network“
auch Oscar-prämierten Soundtrackarbeiten mit Atticus Ross. Die Rückkehr der
Nine Inch Nails mit dem Album „Hesitation Marks“ wiederum fiel im Vorjahr
überraschend stark und den mittlerweile gefundenen privaten Frieden Reznors
ignorierend aus. Immerhin ging es darum, bereits mit dem Wunden aus
Selbstmordversuchen fokussierenden Albumtitel an ein einst vertontes Gefühl
offener Pulsadern anzuknüpfen.
Wunschloses
Unglück
Auf
Kosten eines dann eh guten Best-of-Sets quer durch alle Schaffensphasen wird
das neue Material vor atemberaubenden Visuals in Wien aber nur in homöopathischen Dosen
gereicht. Tracknahe, am Puls der Zeit produzierte Songs mit hübscher Pling-Plong-Elektronik
und den entsprechenden Tucker- und Pluckerbeats aus dem Computer wie „Copy Of A“
oder „Disappointed“ etwa sind mit dabei. Dazu wird in bester Rockermanier gerne
auch eine Stromgitarre gewürgt, die wie einst bei Modern Talking aber unhörbar
bleibt. Das ändert sich bei auf Frontalangriff gestellten Klassikern wie „Wish“
oder „March Of The Pigs“, bei denen Reznor den Raging Bull geben darf. Die
Medikation stimmt, die Stimmung passt, das Set „fährt“. 7500 Konzertbesucher
fühlen sich schlecht, also super. Leiden macht Spaß!
Es
setzt eine neu arrangierte Version von „Sanctified“ oder das mächtig stampfende
„Closer“ als diesseitige Leidensauszeiten in der Lust – sowie „Survivalism“,
„The Beginning Of The End“ und „The Warning“ als Zeugnisse Reznors paranoider
Phase mit dem orwellʼschen Album „Year Zero“. Aus diesem markiert „The Great
Destroyer“ mit seiner elektronischen Frickelorgie zum Schluss das immerwährende
Ende. Der Laptop geht durch, die Welt geht unter.
Im
Zugabenteil folgt nach einem auf „Fuzz“ gestellten „The Day The World Went
Away“ natürlich noch „Hurt“, bei dem man Johnny Cash nicht aus dem Ohr bekommt.
Das ist schlecht für Trent Reznor, heute aber auch schon egal. Es ist der Abend
des wunschlosen Unglücks.
(Wiener Zeitung, 11.6.2014)
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