Die Rolling
Stones spielten zum wieder einmal letzten Mal im Wiener Ernst-Happel-Stadion.
Auch
und vor allem das ist natürlich eine Lesart, die sich schnell aufdrängt: Im
Grunde sind die Rolling Stones eine sehr österreichische Band. Alles bleibt
gleich. Nichts verändert sich. Veränderung ist etwas grundsätzlich Schlechtes. Und
das ist gut!
Eröffnet
wird das wieder einmal letzte Konzert der Rolling Stones im Wiener
Ernst-Happel-Stadion vor 55.000 trotzdem „gespannten“, vor Aufregung jedenfalls
hibbeligen und kribbeligen Besuchern also mit „Start Me Up“. Man lebt mit den
Fans in einer Schicksalsgemeinschaft der fixen Routine, die im Alter
bekanntlich nicht besser wird. Charakterzüge und Vorlieben verstärken sich mit
der Zeit. Was sich ändert, ist höchstens die Tagesform. Und die ist heute, man
muss es sagen, beinahe sensationell!
Mick
Jagger ist auf die Bühne gekommen, um die größten Hits zwar insofern wie im
Schlaf vorzutragen, als er sie gottweiß schon oft genug gesungen hat. Mit einem
nicht nur für sein Alter von immerhin 70 Jahren erstaunlich ambitionierten Programm
in Sachen Leistungsturnen während der Arbeit wird er aber auch so manchen
Jungspund im Publikum Workout-technisch noch in die Tasche stecken. Auch Keith
Richards kann übrigens laufen. Er tut es bloß kaum. Wer braucht das? Was bringt
das? Eine Frage noch bitte: Wozu?!?
Als
Fels in der Brandung, als Riff im Atoll und als Fossil auf der Bühne gibt
Richards lieber den dann aber doch etwas tattrigen Onkel, der oft ohne
erkennbaren Grund in die Leere grinst. Das wirkt wunderlich. Manchmal aber gibt
es einen tatsächlichen Grund zum Lachen. Etwa wenn der Bassist ein ziemlich
kompliziertes Solo zu spielen hat und Keith Richards mit ihm „High five“ machen
will. Das ist fast so gemein wie der Rock ’n’ Roll selbst. Und der ist sehr gemein.
Jeder, der einmal auf einem schlechten Konzert der Rolling Stones war, kann ein
Lied davon singen. Aber diese Gefahr – seien wir zuversichtlich! – besteht
heute ja nicht.
Keith
Richards trägt ein Stirnband in den Farben Jamaikas, dunkle Sonnenbrillen und
ein Hemd, das erst vom Bauchnabel abwärts Knöpfe hat. Das ist für jemanden, der
2014 auf einer Bühne steht, ziemlich viel. Untenrum gibt es Sneakers, wie man
sie wegen dem Tragekomfort auch in Seniorenheimen schätzt, und dazwischen eine
knapp über dem Boden gespielte Gitarre, an der sich Keith Richards festhält. Es
gibt im echten Rock ’n’ Roll kein Stiegengeländer!
Auch
Ronnie Wood, mit 67 Jahren das Nesthäkchen der Rolling Stones, hat Spaß. Er
tänzelt bevorzugt um die eigene Achse und zeichnet damit unwissentlich ein
Sinnbild für seine Band. Über Charlie
Watts am Schlagzeug wiederum ist zu sagen, dass der Rhythmus stimmt, obwohl der
Mann bereits zu Konzertbeginn aussieht, als würde er lieber daheim vor dem
Patschenkino sitzen. Gerade jetzt, wo WM ist, und der Iran gegen Nigeria spielt.
Musikalisch
setzt es ein schneidiges „You Got Me Rocking“, das aus 1994 stammt, also noch
ziemlich neu ist. „It’s Only Rock ’n’ Roll (But I Like It)“ glamt, „Tumbling
Dice“ wird locker aus der Hüfte geschoben und mit „Angie“ will uns Mick Jagger
einer kurzen Durchsage zufolge etwas „Romantäschäs“ singen. Es kommt nun zum
intimsten Moment, den man sich von einem Konzert im Fußballstadion erwarten
kann. Danach werden die Musiker vorgestellt. Keith Richards darf endlich rauchen,
muss dann aber für zwei Songs die Lead-Vocals übernehmen. Er spielt ein hübsches
„You Got The Silver“ und ein grässliches „Can’t Be Seen“. Niemand will das
hören. Alle gehen jetzt Bierholen oder kurz einmal austreten. Es gibt einen Kreislauf
im Rock ’n’ Roll, der unausweichlich ist.
Bei
„Midnight Rambler“ (und später noch bei der letzten Zugabe) gesellt sich Mick
Taylor zu den ehemaligen Kollegen. Er darf beweisen, warum er als begnadetster
Gitarrist der Bandgeschichte gilt, und spielt deshalb sehr lange Solos. Überhaupt
werden die größten Hits mit den gedehntesten Versionen bedacht: Das
übermächtige „Gimme Shelter“ etwa, das mit Chor gegebene „You Can’t Always Get
What You Want“ oder „Sympathy For The Devil“, bei dem die Bühne in
apokalyptischem Feuerrot gen Höllenschlund fährt. Und tatsächlich empfindet man
nicht erst an dieser Stelle dieses unterhaltsamen Konzerts längst auch
tatsächlich Sympathien für den Teufel. Der Teufel, das waren immer auch die
Rolling Stones selbst. Oder zumindest war es Mick Jagger, der heute nicht zur
Sense, sondern zur Gitarre greift, oder uns mit der Mundharmonika das Lied vom
Tod spielen wird.
Was
noch? „Miss You“ entführt in die Disco und „Honky Tonk Women“ mit dem
Boogie-Klavier an die Countrybar. Live überraschend in Ordnung auch „Out Of
Control“, mit dem sich die Rolling Stones 1997 wieder einmal doch nicht neu erfanden.
Bei „Jumpinʼ Jack Flash“, „Brown Sugar“ und „(I Can’t Get No) Satisfaction“
ganz am Ende ist es dann übrigens endgültig soweit: Die Rolling Stones werden gänzlich
von ihren eigenen Songs gespielt! Es ist ein Wunder – ebenso wie das Endresümee
dieses Abends, der nicht nur in Sachen Würdelosigkeit würdig war. Rock ’n’ Roll!
(Wiener Zeitung, 18.6.2014)
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