Mittwoch, Juli 09, 2014

Stadt-Vermessung mit Totenkopf

Jazz Fest Wien: Dr. John, lebende Legende aus New Orleans, ordinierte im Rathaus-Arkadenhof. 

Den Anfang dieses letzten Abends am Jazz Fest Wien für heuer macht die Preservation Hall Jazz Band. Sie heizt dem Arkadenhof im Rathaus publikumsbegeisternd auch mit solierfreudigem Jazz ein, der bisweilen sehr wohl als Dixieland zu bezeichnen ist – um für eine lebende Legende ihrer Heimatstadt New Orleans aufzuwärmen. Dr. John, der seinem Alter von mittlerweile 73 Jahren und einer Weltkarriere in Sachen Eigenmedikation entsprechend gemächlich auf die Bühne schreitet, hat die musikalischen Traditionen der Südstaatencity nicht nur kultiviert, sondern ihnen auch neue Facetten hinzugefügt.

Anfangs immerhin kreuzte er den New-Orleans-R&B nicht nur mit psychedelischem Rock ’n’ Roll. Auf dem Debütalbum „Gris-Gris“ (1968) wie auch auf den frühen Folgearbeiten regierte der Wahnsinn in Form eines entrückten Voodoo-Schamanismus. Das klang fantastisch und hätte dem als Malcolm John Rebennack geborenen Musicman allein für einen Platz in den Geschichtsbüchern gereicht. Auch als Produzentgehilfe und Musiker für namhafte Kollegen wie Van Morrison, die Rolling Stones, Frank Zappa und später Lou Reed oder Spiritualized gefragt, erarbeitete er sich im eigenen Schaffen zusätzlich einen schneidigen Funk. Von Kalifornien aus wiederum wurden ab 1972 klassische New-Orleans-Standards interpretiert, ehe Dr. John, zunehmend von der Gitarre abkehrend, zum Boogie-Meister am Klavier mutierte. Nach Jahren der gepflegten Altersroutine lag es 2012 an Dan Auerbach von den Black Keys, ihm mit dem Album „Locked Down“ einen rohen Blues zurückzugeben, der von Barhockerjazz-Intermezzi für Rotweintrinker nichts wissen wollte.

Mit seiner hervorragenden fünfköpfigen Band und Dr. John als Filzzopfträger an den Tasten wird in Wien gut 100 Spielminuten lang aus allen Perioden gereicht. Während über dem Spickzettelpult des am heutigen Abend beliebtesten Arztes der Stadt nur mehr ein Totenkopf an den Voodoo-Wahnsinn von seinerzeit erinnert, geht es dank „Iko Iko“ mit einem Klassiker los. Man spielt angefunkten Soul, erlaubt sich live mehr Dynamik, verfällt in kleinere Jams und hat sichtlich Spaß auf der Bühne. Mit einer live weniger gefährlichen Version von „Locked Down“ wird es gleich im Anschluss selbstreferenziell: „Lived reckless so long“, erinnert sich Dr. John vermutlich an junge Jahre als Bordellbetreiber im Drogensumpf, um aber auch eines klarzustellen: „Donʼt point no finger at me like you do. Know three of them is pointing back at you!“ Er übt sich mit „Revolution“ in Kapitalismuskritik und sieht die Welt  bei „Kingdom Of Izzness“ wieder einmal in den Abgrund fahren.

Grundsätzlich aber lässt Dr. John die Musik selbst für sich sprechen. Es setzt ein geschlenztes „I Walk On Gilded Splinters“, ein beschwingtes „Big Chief“ und mit „Right Place, Wrong Time“ den größten Hit aus eigener Feder durchaus originalgetreu. Für „Let The Good Times Roll“ erhebt sich der Doktor, um an die Gitarre zu wechseln, ehe Sarah Morrow an der Posaune, psychedelisch gewitzt, das vermutlich durchgeknallteste Solo der Spielsaison 2014 liefert. 

Wie der Abend also war, erklärt Dr. John bei „Such A Night“ ganz am Ende abermals mit rein musikalischen Mitteln. Seine Jünger danken es ihm – mit großem Applaus. 

(Wiener Zeitung, 10.7.2014)

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