Mittwoch, September 03, 2014

Die zur Sonne speanzelt

Die Salzburger Singer-Songwriterin Mel Mayr veröffentlicht ihr drittes Album

Das Gefühl, weg zu müssen, kennt grundsätzlich zwei Ursprungsquellen. Im Gegensatz zum in der Literatur vordergründigen Motiv der Flucht vor den Umständen, der Gegenwart als sogenanntem „Zustand“ oder womöglich schlicht vor sich selbst oft unterschätzt wird in diesem Zusammenhang das Gefühl einer diffusen Sehnsucht. Auch und gerade, wenn alles in Ordnung und vielleicht sogar ganz wunderbar ist, könnte anderes anderswo ja immerhin noch besser sein. Zu viel Zeit zum Nachdenken haben sollte man jedenfalls nicht. Mit dem Spekulieren nämlich sinkt die Wahrscheinlichkeit, dass man alles so haben will, wie es immer war, ebenso schnell gegen null wie das Vertrauen in handelsübliche Ratgeber, hinter deren Suche nach dem Glück sich eine regelrechte Illusionsindustrie offenbart.

Staubwüstentwang

Künstler haben nun hauptberuflich viel Zeit zum Reflektieren, um die Möglichkeit einer Insel stellvertretend für uns im schnöden Alltag Verlorene auszuloten. Das bedeutet neben den erwähnten Gefahren auch die unwahrscheinliche, aber immerhin gegebene Chance, letztlich doch Gewissheit zu erlangen. Singer-Songwriterin Mel Mayr aus Salzburg etwa hat zumindest bezüglich der Umstände keine weiteren Fragen mehr. Ihr nun erscheinendes drittes Album erklärt bereits im Titel, dass ihre Kunst den Schlüssel anvisiert, der schon im Zündschloss steckt. Die Tasche auf die Rückbank, den Fuß aufs Pedal, das Heute ins Gestern: „Go Or Run“ – nur das Tempo ist noch offen.

Nach der semiakustischen Meditation auf Basis der großen kleinen Lieder ihres programmatischen Debütalbums „Escape The Cold“ von 2010 sowie der sanften Hinwendung zum Westküstenfeeling des zwei Jahre darauf mit Robert Rotifer und Death-In-Vegas-Mann Ian Button in Canterbury eingespielten Nachfolgers „King Street“ baut Mel Mayr nun nicht nur die US-Schlagseite ihres Songwritings noch einmal aus. Mit großen Refrains und trotz zurückhaltender Arrangements weitgehend voll ausinstrumentiert wird bisweilen die Breite einer klassischen Bandbesetzung fokussiert. Auch wenn Mel Mayr sich mit Songs wie „When You Get To Shiver“ am Hallklavier versunken in Introspektion übt oder sie bei „A Million Miles Before You Go“ an Neil Young erinnernd abermals demonstriert, dass ein guter Song nicht mehr braucht als eine akustische Gitarre: Wie zwischen trockener Heimorgelgrundierung, nachtschwarzem Staubwüstentwang und etwa den Verstärkerangeboten Flanger, Phaser, Echo und Reverb teils auch an alte Shoegazing- und Dreampop-Vorarbeiten anknüpfend für Dringlichkeit gesorgt wird, macht große Freude. Zumal Mel Mayr als Grund des Aufbruchs definitiv die diffuse Sehnsucht bevorzugt und im Zweifelsfall durch die kalifornischen Palmenhaine hindurch in Richtung Sonne speanzelt, während im Hintergrund das Schlagzeug für Schub und die Akkorde für reine sonische Schönheit sorgen: „Give me something to open up the gates / And I swear Iʼll rearrange your mind!“

One-Woman-Show

Weitgehend als One-Woman-Show aktiv, erhielt Mayr für die Aufnahmen zu „Go Or Run“ von einem fünfköpfigen Team um den Salzburger Lokal-Matador Michael Steinitz alias Stootsie Unterstützung, dessen Britpop-Affinität sich auf die Ergebnisse keinesfalls auswirken durfte. Dass mit „Don’t Look Back“ ausgerechnet die erste Singleauskopplung nicht zu den besten der zehn neuen Nummern gehört, spricht übrigens nicht gegen den Song, sondern für das Album als Einheit. Auch wenn dessen Anschaffung alleine schon durch ein auf den Punkt gespieltes Götterstück wie „Give Me Something“ gerechtfertigt wäre, das auratisch zwischen früher PJ Harvey und einer bodenständigeren Version des Anna Calvi’schen Samtmelodrams ankert.

Nicht nur wegen dieser Stelle wird die Flucht hörerseitig abgesagt. Manchmal ist der Moment einfach zu gut, um nach Alternativen zu suchen.

Mel Mayr: Go Or Run (FreeFall/Hoanzl)

(Wiener Zeitung, 4.9.2014) 

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