Mittwoch, November 19, 2014

Entrückte Freuden in echt

Annie Clark alias St. Vincent gastierte in der Wiener Arena

Am Anfang redet uns eine Roboterstimme das Fotografieren aus. Das passt insofern gut, als die 32-jährige Heldin des Abends zwar sehr modern klingt, ihr eine gewisse Müdigkeit in Sachen digitales Leben aber nicht abzusprechen ist. Mit „Digital Witness“ adressiert gleich Song Nummer zwei auf der Setlist den Zwang, die spannendsten Aspekte des Alltags (Mein neuestes Muttermal! Burenwurstcarpaccio an Kremser-Senf-Spiegel! Du glaubst, es ist ein normales Klo, doch dann passiert etwas Unglaubliches!) festhalten und mit der Weltöffentlichkeit teilen zu müssen. Ausgerechnet heute nach dem Konzert von Annie Clark alias St. Vincent in der Wiener Arena, wo es eventuell tatsächlich etwas zu sehen gibt, werden wir das Erlebte also weitergeben müssen wie einst schon die alten Leute: in echt und mit Worten. Grotesk!

Und apropos: St. Vincent beginnt eine zwischen Pantomime und Ausdruckstanz angesiedelte Choreografie mit dem vermuteten Titel „Entrückte Stewardess bei der Sicherheitsinstruktion“ aufzuführen. Im kessen Popart-Kostüm, mit humanoidgleicher Bewegungsmotorik und überzeichneter Mimik wird nicht nur musiziert, sondern auch eine Show geboten. Zwischendurch stellt sich die Band tot oder schlafend. Großes Rätselraten bezüglich der Bedeutung! Mit Annie Clark auf einen Sockel drapiert, den Boxenturm besteigend oder die Gitarre wie einst Brian May in den Himmel haltend, darf man aber einen Bruch mit dem männlichen Blick und die Überspitzung von Klischees assoziieren. Die Inszenierung trifft sich jedenfalls gut, ist doch auch die Musik von St. Vincent am besten als verschroben bezeichnet.

Zwar kommen die unkonventionellen Songs bei gedrosselter Lautstärke und weitgehend als Live-Abbildung der Studioresultate heute auch gewöhnlich daher. Mit den meisten Wendungen in den wenigsten Takten und der denkbar eigentümlichsten Saitenbehandlung – wir hören: Gitarren, die wie Bohrmaschinen klingen und Solos, verspielter als die Basteltruppe vom Kindergarten – wird zwischen Handwerk und Kunst aber unterhaltsam dienstgeleistet. Hübsch holpern die Beats und zackig tröten die Bläser. Theatralische Zwischenspiele, schelmische Popmomente, etwas Soul und letztlich auch noch ein schwer doomendes Donnerwetter halten den Abend lebendig.

Nicht nur, weil Annie Clark uns Leute aus Vienna, Austria freundlich in ihre Gemeinde der Freaks aufgenommen hat, fällt das Resümee – in echt – recht begeistert aus. Nur im Social Media drinnen gibt es wenig zu sehen.   

(Wiener Zeitung, 20.11.2014)

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