Freitag, November 07, 2014

Hier spielt die Musik

Berlin und Hamburg sind Deutschlands Pop-Epizentren. Von ihrer historischen Bedeutsamkeit lassen sich die Städte nicht erdrücken, sondern inspirieren.

Der Ausgangspunkt ist nach wie vor das Westberlin der 1980er Jahre, in dem die kreative Mauerbohème ihre Spielwiese fand. Pop war noch nicht restlos ausdefiniert und an den künstlerischen Rändern weit davon entfernt, kommerziell vereinnahmt zu werden. Mit freien Radikalen wie den Einstürzenden Neubauten als stilprägenden Kindern der Stadt wurde „Hören mit Schmerzen“ gespielt: Musik mit Schneidbrenner, Vorschlaghammer und Ölfässern, so genial wie gefährlich.

Nick Cave wohnte ebenso hier wie Iggy Pop und David Bowie, der mit seiner „Berlin-Trilogie“ um die Alben „Low“, „Heroes“ und „Lodger“ gegen Ende der 70er Jahre bekanntlich drei Meilensteine in seine Diskografie meißelte. Spazierte man in den letzten Monaten durch die Spree-Metropole, war diese Ära wieder stärker präsent: Mit einer großen David-Bowie-Ausstellung im Martin-Gropius-Bau und Stadtführungen auf den Spuren des Meisters wurde nicht zuletzt an eine Zeit erinnert, die bis heute nachwirkt – und von einer Bewegung abgelöst wurde, von der man das Gleiche behaupten muss: Immerhin ist Techno in den Clubs omnipräsent, seit er rund um den Mauerfall zum Herzschlag einer Phase des Aufbruchs wurde. Vorweggenommen in den 70er Jahren von Kraftwerk in Düsseldorf, weiterentwickelt und als energetische Tanzmusik für niemals endende Nächte zelebriert in Berlin.

Dass das große „Nts-Nts“ als der deutschen Formenstrenge entsprechender Viervierteltakt nach wie vor funktioniert und Berlin dadurch einen Party-Tourismus erfährt, der in Sachen Umwegrentabilität den Umsatz verschiedenster Wirtschaftszweige unterstützt, ist zumindest aus zwei Gründen erstaunlich. Zum einen kann vom Aufbruchsgeist der Anfangstage als Multiplikator heute nicht mehr die Rede sein – es war die Zeit der leerstehenden Keller und Bunker, die damals noch leicht okkupiert werden konnten. Zum anderen drohte Techno auch über die Loveparade als baldige Massenbewegung in den 90er Jahren ein jähes Ende. Konsequente Nischenarbeit abseits des Mainstreams lieferte die Daseinsberichtigung und sorgte nicht zuletzt mit slicken Minimal-Sounds für ein Revival.

Die Gefahr, von der Vergangenheit in die Musealisierung, die Nostalgie und den künstlerischen Stillstand gedrängt zu werden, ist im Pop zwar heute größer denn je. Dass mit dem Berghain einer der international renommiertesten Clubs a) aus Berlin und b) vom Techno her kommt, darf aber als Demonstration gesehen werden, wie man sich von der eigenen Geschichte nicht erdrücken, sondern sich von ihr inspirieren lassen kann. Schließlich gilt der am alten Ostbahnhof gelegene Club in Zeiten der geforderten Totaltransparenz als kontrastreich enigmatisch, während er mit einem Hang zur Ausschweifung jedweder Art und der Bespielung eines ehemaligen Heizkraftwerks an zentrale Ursprungsgedanken der Szene anknüpft – und mit Konzerten großer Gitarrenaltvorderer wie etwa Michael Gira und seiner Band Swans dennoch Kunst über Genredogmen stellt. Das ist ein Hit. Und hat zur Folge, dass etwa auch Radiohead-Mann Thom Yorke mit seinem Projekt Atoms For Peace vorbeischaut, wenn es gilt, ein neues Album mit selektierten Auftritten zwischen London, Paris und New York vorzustellen.

Auch weil Berlin als im internationalen Vergleich „leistbare“ Metropole ungebrochen Zulauf von Künstlern erhält, die von der neuen Wahlheimat nicht nur Inspiration erwarten, herrscht längst ein zur Zeit passendes buntes Nebeneinander aller Genres, das auch ohne kleinsten gemeinsamen Strömungsnenner auskommt und den Produktionsort nicht weiter als solchen erkennbar macht. Ähnlich wie bei David Bowie („Die Mauer im Rücken so kalt …“) als Sujet in der Musik diente Berlin zuletzt noch am ehesten den „Dancehall-Caballeros“ von Seeed und deren Frontmann Peter Fox, die „das dicke B“ mit kritischen Würdigungen bedachten. Oder bei den Acts des Labels Aggro Berlin, die Formalismen des US-Gangsta-Rap in den Nullerjahren zweifelhaft auf soziale Brennpunkte zwischen Kreuzberg, Neukölln und Moabit übertrugen.

Mit einem Geflecht von mehr als 500 Labels erklärt Berlin in Zeiten schwindender Erträge aus dem Musikgeschäft aber auch seine Beschreibung als „arm, aber sexy“. Dass der scheidende Bürgermeister Klaus Wowereit mit dem ehemaligen Labelbetreiber Tim Renner heuer einen Mann aus dem Pop-Umfeld als Staatssekretär für kulturelle Angelegenheiten installierte, darf entsprechend als Zeichen betrachtet werden. Schließlich steht die Musikwirtschaft Berlins mit knapp 12.500 Beschäftigen im Jahr 2012 auf Platz eins in Deutschland, was die Arbeitsplätze betrifft – ein Anteil von 63 Prozent an Selbstständigen und frei Beschäftigten allerdings unterstreicht die Eigenwilligkeiten der Branche und ihre mitunter prekäre Basis.

Die prekäre Basis und die „Umstände“ da draußen dominieren das Popgeschehen Hamburgs bereits seit den 70er Jahren vergleichsweise vordergründig. Die bürgerliche Stadt bietet Reibungsflächen genug, um eine Hausbesetzerszene ebenso unfreiwillig zu fördern wie ein agitierendes Songwriting mit politischem Ausdruck und geballter Faust. Aussage statt Hedonismus, Kampf statt Flucht! Zwar war die Hansestadt früh mitten im popkulturellen Mainstream angelangt, als nach Jahrhunderten des Handelsimports von Salz aus Frankreich und Portugal plötzlich die Beatles mit dem Düsenjet aus Liverpool kamen. Das popkulturelle Herzstück Hamburgs war und ist aber in der Gegenkultur zu finden. Bands wie Die Goldenen Zitronen, die Punk letztlich ins Theater brachten und mit dem Golden Pudel Club eine nächtliche Fixadresse im Stadtleben verankerten, sowie vor allem die Vertreter der Hamburger Schule der 90er Jahre stoßen generationsübergreifend bis heute auf offene Ohren. Immerhin standen die Letztgenannten mit deutschen Texten über Befindlichkeiten des jung-erwachsenen Individuums in einem als beengend empfundenen „System“ für eine zeitlos gültige Mischung. Die Sterne verliehen den Inhalten einen tanzbaren Groove, Tocotronic schrammelten und schrubbten, bevor es in Richtung Kunstrock ging, und Blumfeld wechselten von lyrisch umrahmten Klirrgitarren zu teils verwirrend-wunderbarem Schlagerpop mit Haltung. Dass sich heute debütierende, blutjunge Gitarrenbands an diesem Erbe orientieren, gibt den Altvorderen recht. Wobei eine neue Generation mit Bands wie etwa den angriffigen 1000 Robota oder Trümmer, die der Tristesse des Alltags mit ausgestellter Euphorie begegnen, hörbar eigene Akzente setzt.

Die kommerzielle Seite des „Systems“ markiert in Hamburg nicht nur der Hauptsitz von Warner Music Germany in der Hafencity. Mit 664 Millionen Euro im Jahr 2012 liegt die Musikwirtschaft der Stadt in Sachen Umsatz sogar vor Berlin. Wobei man mit Indigo auf einen der letzten wichtigen Indie-Vertriebe Deutschlands ebenso verweisen kann wie auf alteingesessene Labels wie Buback, die in loyaler Partnerschaft mit ihren Künstlern gewachsen sind. 

Überhaupt ist eine zwischen Idealismus und Geschäftstüchtigkeit agierende Szene abseits des Mainstreams charakteristisch für Hamburg. Das auch auf ungewöhnliche Austragungsorte und die Clubs der Stadt fokussierte Reeperbahn Festival erfreut sich mit seiner Mischung aus jungen Acts, die kurz vor dem Durchbruch stehen, und bereits etablierten Bands einerseits beim Publikum großer Beliebtheit. Andererseits wird die Musikwirtschaft mit einer angeschlossenen Konferenzschiene zum Austausch von Know-how und zum Netzwerken animiert – ein Konzept mit veranstalterischem Dominoeffekt: Das seit 2011 in Wien stattfindende Waves Vienna orientiert sich nicht zuletzt am Hamburger Vorbild. 

(Wiener Zeitung / Atlas, 8.11.2014)

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