Neues Album und
Tour: Die Einstürzenden Neubauten vertonen den Ersten Weltkrieg.
Die
Geschichte meinte es nicht gut mit Diksmuide. Immerhin befand sich die
belgische Stadt im Ersten Weltkrieg im Frontbereich. Und trotz erheblichen
Widerstands gegen die deutschen Truppen – König Albert I. entschied sich
letztlich für die Verzweiflungstat, das Umland zu fluten und damit eine
buchstäbliche Schlammschlacht auszulösen – wurde sie im Zuge der
Kampfhandlungen vollständig verwüstet. Der Wiederaufbau erfolgte erst in den
1920er Jahren.
Es
entbehrt also nicht einer gewissen Ironie, dass nun ausgerechnet die
Einstürzenden Neubauten aus dem einstigen Westberlin beauftragt wurden,
anlässlich der Gedenkfeierlichkeiten zum Beginn des Ersten Weltkriegs vor 100
Jahren eine Performance zu gestalten, die am heutigen Samstag in Diksmuide
Premiere feiert, im Anschluss auf Tournee gehen wird und in Form eines Albums
mit dem treffenden Titel „Lament“ soeben erschienen ist.
Dabei
hatte die Band schon insofern ein zur Job Description passendes
Bewerbungs-Portfolio in der Tasche, als sich ihr Sound ganz grundsätzlich
zwischen Mark und Bein durchdringendem Endzeitnoise und schwerstem
Depressionsmoll definiert. Und auch Sänger Blixa Bargeld in seiner Lebensrolle
als düstere Diva und donnernder Dichterfürst, dessen Textarbeit schon bei
geringeren Themen kaum ohne vorangegangenes Theoriestudium erfolgt, scheint den
Kriegsschrecken nicht nur mit seinem dunklen Timbre eine entsprechende Stimme
zu verleihen.
Weil
das Thema nun recht komplex, aber auch bereits hinlänglich abgehandelt ist,
wurde diesmal externe Exzellenz mit an Bord geholt. Prätentiöserweise gleich
zwei wissenschaftliche Mitarbeiter halfen Bargeld, der Materie zur Kunst der
Neubauten passende, noch nicht vollends durchgekaute Aspekte abzuringen. Mit
Wachszylinderaufnahmen aus dem Lautarchiv der Humboldt-Universität zu Berlin
gelang es, an rare und durchaus heikle Tondokumente zu kommen. Schließlich
handelt es sich um die Stimmen von Kriegsgefangenen, die die biblische
Geschichte vom verlorenen Sohn unter deutscher Aufsicht in ihrer jeweiligen
Landessprache vorlesen mussten. Die Einstürzenden Neubauten verknüpfen sie auf
Basis einer Motette des Renaissance-Komponisten Jacobus Clemens non Papa zu
einer dräuenden Ambient-Elegie, die man als einen Höhepunkt der Arbeit bezeichnen
darf.
Mit
zwei Coverversionen wird zusätzlich an die Geschichte der sogenannten Harlem
Hellfighters erinnert, die als erste afroamerikanische Armee-Einheit für die
USA in den Krieg ziehen mussten, zur Zeit der Rassentrennung aber unter
französisches Kommando gestellt wurden – und frühen Jazz nach Europa brachten,
wo sie ihn um historisch bedeutsame, da Zeitzeugenschaft bekundende Inhalte
ergänzten. Stücke wie „On Patrol In No Man’s Land“ und „All Of No Man’s Land Is
Ours“ erzählen direkt aus dem Schützengraben oder von der Rückkehr als
gezeichnete Überlebende in die Heimat, wo ein hoffnungsvoller Blick in die
Zukunft noch nicht absehen konnte, dass die Welt bald wieder vor dem Abgrund
stehen würde.
Dafür
spielen die Einstürzenden Neubauten ihre Kernkompetenzen nicht nur in Sachen
Unheil verkündender Stahldonner aus. „Der 1. Weltkrieg (Percussion Version)“
kommt als mäanderndes, streng durchgerechnetes Modell der Kriegschronologie
daher. Eine Interpretation von „Sag mir, wo die Blumen sind“ geht
erstaunlicherweise gut. Die nebelschwadrige Vokalstudie des Titelstücks ist
eine Art Gegenthese zu zwei Momenten des gewitzten Bruchs, die sich mit dem
anarchistisch angehauchten „Hymnen“ und mit Blixa Bargeld als
Tierstimmenimitator entfalten. Als „Hit“ des Albums wiederum erweckt das
Gänsehaut erzeugende „How Did I Die?“ zum finalen Erlösungs-Crescendo die Toten
zum Leben. Nur bei „The Willy – Nicky Telegrams“ und der absurden
Autotune-Entstellung von Blixa Bargelds Götterstimme kann man sich den Kalauer
nicht verkneifen, dass dem Ersten Weltkrieg hier ein weiteres schwarzes Kapitel
hinzugefügt wird.
Die
Ironie der Geschichte will es übrigens auch, dass der Tourstart nun mit einem
der Band näherliegenden Jubiläum, dem 25. Jahrestag des Mauerfalls, kollidiert
– und die Katastrophe als ergiebiges künstlerisches Problemfeld einmal mehr
interessanter bleibt als ihre Überwindung.
Einstürzende
Neubauten: Lament (BMG Rights Management)
(Wiener Zeitung, 8./9.11.2014)
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