Freitag, November 07, 2014

Notizen aus der Hölle

Neues Album und Tour: Die Einstürzenden Neubauten vertonen den Ersten Weltkrieg.

Die Geschichte meinte es nicht gut mit Diksmuide. Immerhin befand sich die belgische Stadt im Ersten Weltkrieg im Frontbereich. Und trotz erheblichen Widerstands gegen die deutschen Truppen – König Albert I. entschied sich letztlich für die Verzweiflungstat, das Umland zu fluten und damit eine buchstäbliche Schlammschlacht auszulösen – wurde sie im Zuge der Kampfhandlungen vollständig verwüstet. Der Wiederaufbau erfolgte erst in den 1920er Jahren.

Es entbehrt also nicht einer gewissen Ironie, dass nun ausgerechnet die Einstürzenden Neubauten aus dem einstigen Westberlin beauftragt wurden, anlässlich der Gedenkfeierlichkeiten zum Beginn des Ersten Weltkriegs vor 100 Jahren eine Performance zu gestalten, die am heutigen Samstag in Diksmuide Premiere feiert, im Anschluss auf Tournee gehen wird und in Form eines Albums mit dem treffenden Titel „Lament“ soeben erschienen ist.

Dabei hatte die Band schon insofern ein zur Job Description passendes Bewerbungs-Portfolio in der Tasche, als sich ihr Sound ganz grundsätzlich zwischen Mark und Bein durchdringendem Endzeitnoise und schwerstem Depressionsmoll definiert. Und auch Sänger Blixa Bargeld in seiner Lebensrolle als düstere Diva und donnernder Dichterfürst, dessen Textarbeit schon bei geringeren Themen kaum ohne vorangegangenes Theoriestudium erfolgt, scheint den Kriegsschrecken nicht nur mit seinem dunklen Timbre eine entsprechende Stimme zu verleihen.

Weil das Thema nun recht komplex, aber auch bereits hinlänglich abgehandelt ist, wurde diesmal externe Exzellenz mit an Bord geholt. Prätentiöserweise gleich zwei wissenschaftliche Mitarbeiter halfen Bargeld, der Materie zur Kunst der Neubauten passende, noch nicht vollends durchgekaute Aspekte abzuringen. Mit Wachszylinderaufnahmen aus dem Lautarchiv der Humboldt-Universität zu Berlin gelang es, an rare und durchaus heikle Tondokumente zu kommen. Schließlich handelt es sich um die Stimmen von Kriegsgefangenen, die die biblische Geschichte vom verlorenen Sohn unter deutscher Aufsicht in ihrer jeweiligen Landessprache vorlesen mussten. Die Einstürzenden Neubauten verknüpfen sie auf Basis einer Motette des Renaissance-Komponisten Jacobus Clemens non Papa zu einer dräuenden Ambient-Elegie, die man als einen Höhepunkt der Arbeit bezeichnen darf.

Mit zwei Coverversionen wird zusätzlich an die Geschichte der sogenannten Harlem Hellfighters erinnert, die als erste afroamerikanische Armee-Einheit für die USA in den Krieg ziehen mussten, zur Zeit der Rassentrennung aber unter französisches Kommando gestellt wurden – und frühen Jazz nach Europa brachten, wo sie ihn um historisch bedeutsame, da Zeitzeugenschaft bekundende Inhalte ergänzten. Stücke wie „On Patrol In No Man’s Land“ und „All Of No Man’s Land Is Ours“ erzählen direkt aus dem Schützengraben oder von der Rückkehr als gezeichnete Überlebende in die Heimat, wo ein hoffnungsvoller Blick in die Zukunft noch nicht absehen konnte, dass die Welt bald wieder vor dem Abgrund stehen würde.

Dafür spielen die Einstürzenden Neubauten ihre Kernkompetenzen nicht nur in Sachen Unheil verkündender Stahldonner aus. „Der 1. Weltkrieg (Percussion Version)“ kommt als mäanderndes, streng durchgerechnetes Modell der Kriegschronologie daher. Eine Interpretation von „Sag mir, wo die Blumen sind“ geht erstaunlicherweise gut. Die nebelschwadrige Vokalstudie des Titelstücks ist eine Art Gegenthese zu zwei Momenten des gewitzten Bruchs, die sich mit dem anarchistisch angehauchten „Hymnen“ und mit Blixa Bargeld als Tierstimmenimitator entfalten. Als „Hit“ des Albums wiederum erweckt das Gänsehaut erzeugende „How Did I Die?“ zum finalen Erlösungs-Crescendo die Toten zum Leben. Nur bei „The Willy – Nicky Telegrams“ und der absurden Autotune-Entstellung von Blixa Bargelds Götterstimme kann man sich den Kalauer nicht verkneifen, dass dem Ersten Weltkrieg hier ein weiteres schwarzes Kapitel hinzugefügt wird.

Die Ironie der Geschichte will es übrigens auch, dass der Tourstart nun mit einem der Band näherliegenden Jubiläum, dem 25. Jahrestag des Mauerfalls, kollidiert – und die Katastrophe als ergiebiges künstlerisches Problemfeld einmal mehr interessanter bleibt als ihre Überwindung. 

Einstürzende Neubauten: Lament (BMG Rights Management)

(Wiener Zeitung, 8./9.11.2014)

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