Donnerstag, Dezember 18, 2014

Zeit ist relativ – egal

Lenny Kravitz schaute für ein weiteres Best-of-Konzert in Wien vorbei.

Wenn man sich gerade nicht in der Quarter- oder Midlifecrisis befindet, man sich kein Auto kaufen mag (oder es sich nicht leisten kann), trotzdem aber Lust hat, sich selbst zu beschenken, sei die Anschaffung einer Automatikuhr wärmstens empfohlen. Diese hat auch einen Wert, hält im Normalfall länger als ein fahrbarerer Untersatz, kann dereinst an die Kinder weitergegeben werden, die man erst zeugen muss, und erklärt am Ziffernblatt schon davor ganz genau, dass die Zeit, die man hat, auch nicht mehr mehr werden wird.

Ja, wenn Lenny Kravitz mit standesgemäßer Rockstarverspätung um 21:19 Uhr – Tick-tack! – noch immer nicht auf der Bühne steht, hat man Zeit, sich so seine Gedanken zu machen. Zeit mag ja eine fixe Größe sein, vor allem im Rock ’n’ Roll ist sie aber immer auch relativ – und ein bisserl egal, weil man morgen früh ja nicht in die Hackn muss. Als der Held des Abends schließlich doch noch erscheint, wird dieser Umstand gleich mit der Eröffnungsnummer offenkundig: „Dirty White Boots“ („Streif dein Höschen ab, Baby, zeig her deine Schätze!“) beweist, dass man auch im Alter von 50 Jahren noch Lieder schreiben kann, die schon ein halbes Leben davor peinlich gewesen wären.

Sex! Sex!! Sex!!!

Für die Verhältnisse eines Lenny Kravitz – dunkle Sonnenbrille, Pokerface, die Faust in die Höhʼ! – mag der Song zwar nur bedingt peinlich sein. Das weiß man nicht nur, wenn man sein aktuelles Album kennt: „Strut“, das bereits eine Karriere lang vorexerzierte Stolzieren, im Video zur neuen, mit kühler New-Wave- und heißer Unterhosenmodel-Ästhetik als erhebliches Drama einmal mehr vorgeführt, beweist es nicht zuletzt mit einem live ausgesparten Song namens „Sex“: „Ich fühle die Flammen deines Feuers und es verbrennt mir das Herz. Girl, du hast meine Nummer, und es hört niemals auf … Ja, mich überkommt ein Gefühl. Sex! Sex!! Sex!!!“

Nun wissen wir zwar spätestens seit Peter Weibel und dem Hotel Morphila Orchester, dass nicht nur Zeit, sondern auch „Sex in der Stadt“ („Zungenküsse, französisch, griechische Leiden! Marxergasse 46, 1-1“) etwas ist, das keiner hat. Wenn man sich zumindest für die Dauer eines dank Dauersolos auch mit nur 13 Songs auf zwei Stunden aufgedonnerten Rockkonzerts der schönen bis richtig geil schönen Illusion hingeben will, ist man bei Lenny Kravitz in seiner Altersrolle als Filf mit Sixpack aber definitiv an der richtigen Adresse. „Wiener Stadthalle. Roland Rainer Platz 1. Onanie mit Gitarre. Endloses Geschwurbel!“

Spaß an der Freud

Hätte man sich nun beim Einkaufen für die Chronoskop-Uhr entschieden, könnte man bezüglich der Zeit sogar noch Genaueres sagen. Geschätztermaßen müsste aber mit „Always On The Run“ im ewigen funky Jam und dem über die Bläserabordnung in Richtung Jazz-Keller gebogenen „Let Love Rule“ zumindest zwei Mal an der 20-Minuten-Grenze gekratzt worden sein. Zeit ist bekanntlich auch Geld. Und wenn du eine Lawine an Dienstpersonal mit auf Tournee nimmst, muss dieses auch ordentlich Solos geben, damit sich das wieder reinspielt! Mangelnden Spaß an der Freud kann man Lenny Kravitz und seinem Team jedenfalls nicht vorwerfen.

Trotzdem ist es erfreulich, wenn ein Song auch einmal auf den Punkt gebracht wird. Das ist bei guten alten Nummern wie dem den Ohren im Phillysound schmeichelnden „It Ain’t Over ʼTil It’s Over“ ebenso der Fall wie beim zurückgenommenen „I Belong To You“ oder „Dancinʼ Til Dawn“ mit seinem trockenen Midtempogroove – und auch bei „Fly Away“, dem großen Hit, bei dem es leider „stumpf ist Trumpf“ heißt.

Am Ende wird „Are You Gonna Go My Way“ von der Band alleine nach Hause gespielt, während Lenny Kravitz bereits Autogramme schreibt. Es gibt im Rock ’n’ Roll einen Dienstschluss! Nur liegt die Gangabweichung mitunter deutlich über der eines Präzisionsuhrwerks aus der Schweiz. Tick-tack!

(Wiener Zeitung, 19.12.2014)

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