Die BBC kürt ihren
Pop-Sound 2015: Er klingt austauschbarer, als man befürchten musste
Bereits
heute zu wissen, was morgen kommt, mag seine Vorteile haben. Man ist gewappnet
und vorbereitet, kennt den Zug, auf den man aufspringen muss, ebenso wie den
Zeitpunkt und den Ort seiner Abfahrt – und man erwirbt sich damit nicht nur den
in der Wissensgesellschaft so entscheidenden Vorsprung, sondern auch die für
das menschliche Gemüt so wesentliche Sicherheit. Und sei es auch nur jene, mitreden
zu können oder es schon immer gewusst zu haben. Sicher ist: Wissen beruhigt.
Nur
wenn sich das Heute zunehmend so gestaltet, dass man nicht erst wissen will,
wie das Morgen aussehen wird, dann hat man ein Problem. Und man hat vermutlich
auch gar kein Wissen, weil sich die Vorahnung von einem Trend ableitet, der aus
einem Gefühl entsteht. Und das Gefühl sagt mit fortdauernder Lebenszeit nicht
selten, dass alles schon einmal da und vermutlich auch besser war.
Sieg der Nettigkeit
Strebt
man nach Konstanz, Zeitlosigkeit oder zumindest nach einem Ausdruck, der über die
nächste Kalenderwoche hinaus gültig ist, ist die moderne Welt recht häufig also
eine Welt der Enttäuschung. Und selbst mit offenen Augen und Armen für alles und
jeden wird man irgendwann feststellen müssen: Es gibt Wiederholungen. Mode und
Pop an der Speerspitze des Trends gelten somit als die Kunst, längst Vorhandenes
so umzumodellieren, dass eine Mehrheit es a) als neu betrachtet oder b)
zumindest für gut genug befindet, um daran teilhaben zu wollen. Hat man sich
darauf geeinigt, scheitert die BBC mit ihrem jährlichen „Sound of …“-Poll als
Pop-Prognose für die Folgesaison seit Jahren erheblich.
Seit
spätestens 2010 wird zwar kein wie auch immer gearteter Zeitgeist ausgelotet
und ausnahmslos jeder Sieger vom Plattenmajor Universal Music unter Vertrag
genommen, sofern er nicht bereits vor seiner Nennung auf der Longlist – ein
Wunder! – bei diesem vorstellig wurde. Allerdings tauchen die Acts am Ende des Jahres
nicht mehr in den Best-of-Listen der Kritiker auf. Musikalisch regieren an der
Spitze nämlich der Kompromiss, die Beliebig- und, im vergleichsweise besten
Fall, die Nettigkeit: Letztere immerhin mit Acts wie Michael Kiwanuka (2012)
und Haim (2013). Über die ein wenig egalen Songs von Sam Smith, dem
Vorjahressieger, wiederum ist zu sagen, dass sie sich zumindest verkaufen. Für
die bevorstehende Grammy-Verleihung ist der Mann folgerichtig in gleich sechs
Kategorien nominiert, ohne rosige Kritiken bekommen zu haben.
Traurig tanzen
In
seiner von einem Fokus auf UK und insbesondere London geprägten aktuellen
Ausgabe – mit dem zu konsensfähigem Eklektizismus neigenden Singer-Songwriter
Raury aus Atlanta, Georgia, blickt man nur ein halbes Mal über den Tellerrand –
spielt sich die Durchbruchsprognose heuer aber endgültig an den Rand ihrer
Daseinsberichtigung. Das im Synthie-Pop der New Romantics wurzelnde und diesen
mit angestaubten Clubsounds tanzbar in Richtung Ibiza treibende Trio Years
& Years könnte bereits während der Saison wieder vergessen sein. Inhaltlich
zwischen hormonellem Frühlingserwachen und dem Herzbruch im Anschluss angesiedelt,
übersetzt Olly Alexander als Zentrum am Mikrofon den dabei besungenen „Sound of
fear“ mit inniger (Falsett-)Stimme als traurigen Tanz über den Dancefloor. Cheesy
Keyboardflächen werden aufgetragen und mit pulsierenden Synthesizern, eingestreuten
The-xx-Gitarren und Schema-F-Dosenbeats zu betont simplen Songs geformt. Bisweilen
klingt es schamanisch, gespensternd oder so, als würde man zu nahe an Madonnas
„La Isla Bonita“ ankern („King“). Ob es von Alexander klug war, dafür eine
bereits auf Schiene gebrachte Schauspielkarriere zu opfern, ist mehr als fraglich.
Die
Ergebnisse mögen für sich genommen kein Drama sein, sie sind es aber an dieser
Stelle. Wenn
der BBC-Poll eine Prognose zulässt, dann jene, dass seine Prognostiker am Ende
sind.
(Wiener Zeitung, 14.1.2015)
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