Als
astronomischen Frühlingsbeginn kennt und schätzt die Nordhalbkugel der Erde
noch bis ins Jahr 2048 den 20. März. Sollte sich das Wetter als vom Stichtag unbeeindruckt
erweisen, hilft nur mehr Musik. Meteorologisch-popkulturelle Fusionsnotizen mit
Hörbeispielen.
Sigur Rós –
Gobbledigook:
Als „Das finstere Tal“ der echten Welt gilt Viganella im Piemont. Die
umliegenden Berge sorgten traditionellerweise dafür, dass 170 Einheimische knapp
drei sehr lange Wintermonate lang keiner Sonne ansichtig wurden. Erst die
Montage einer Spiegelvorrichtung brachte im Jahr 2006 einen Hauch jener
Linderung, die man sich in vergleichbar dusteren Gebieten zwischen Sibirien,
Finnland und Ebensee hart mit Vodka und Schnaps erarbeiten muss. Da nur ein
kleiner Teil des Tals von der Lichtspiegelung erreicht werden kann, bleibt die
Möglichkeit, „I See A Darkness“ von Bonnie „Prince“ Billy zur Ortshymne zu ernennen,
aber weiterhin gegeben. Trotz ähnlicher Lichterfahrungen in ihrer isländischen Heimat
spielten sich Sigur Rós mit „Gobbledigook“ 2008 hocheffizient von Kälte und
Schatten frei. Ein Song, so frisch wie der Morgentau, so zart wie die
Kirschblüte, so leichtfüßig wie eine Primaballerina, über Wiesen aus
Zuckerwatte tänzelnd.
Prince –
Sometimes It Snows In April: Nicht nur Eisbären, Auerhähne und
Luchse beginnt es spätestens im März erheblich zu jucken. Auch der Mensch im
Frühling: immer ein wenig wurlert und ding. Weniger Kleidung. Mehr Reize. Dazu
erhöhte Lockstoffwerte in der Luft und sich eifrig tupfendes Getier am Rande
des Wegs! Dass Prince, dieser erotomanischste Sexomat aller Gitarrenschwurbler,
mit einem Geburtsdatum am 7. Juni ein Kind des Frühlings ist, versteht sich von
selbst. Dass sein bekanntester Song mit Frühlingsbezug in Sachen Doppelbettbödigkeit
(„I’d like to funk!“), Adjektiva („hot!“, „funky!“) und Symptominterjektionen
(„sh-boogie bop“) allerdings unauffällig bleibt, überrascht dann schon eher. Das
zur aktuellen Wetterlage passende „Sometimes It Snows In April“ ist eine
betrübte Meditation zum Thema Tod, die auch bei einem Sonnenbad im Grünen melancholisch
stimmen dürfte.
Joanna Newsom –
In California:
Schon in der Bibel steht geschrieben, dass es im Himmel Geigen gibt – und vor
allem auch Harfen. Über die US-Harfenistin Joanna Newsom sagen die einen:
lieber freiwillig Fegefeuer für immer als zwei Minuten mit dieser Stimme! Die
anderen wiederum sind der Meinung: Hach! Seufz! Ja! Ja! Als Hippieparadies für Menschen
mit Blumen im Haar wurde Kalifornien schon vielfach besungen. Realiter wird der
US-Bundesstaat heute nicht zuletzt von Wohlhabenden als Rückzugsgebiet mit
gutem Klima und Weinanschluss geschätzt. Joanna Newsom reicht mit „In California“ ein knapp neunminütiges
Kammerdrama, das uns alles gibt: „When you come and see me in California / you
cross the border of my heart.“ Wer diese Musik nicht liebt, liebt nichts mehr auf
Erden.
Brian Eno/John
Cale – Spinning Away:
Am Ende des Tages sitzt jemand auf einem Hügel unter dem Himmel und fängt die
Stimmung mit dem Bleistift ein. Der Himmel ist violett, später rabenschwarz,
Hauptrollen spielen ein Flugzeug, eine goldene Kette (poetisch für den
Kondensstreifen) und der auftauchende Mond. Die Zeichnung entschwindet und alle
vier Winde verfallen in ein letztes leises Seufzen. Die Kollaboration von Brian
Eno und John Cale mit dem Album „Wrong Way Up“ markierte im Jahr 1990 ein
ebenso überraschendes wie überzeugtes Bekenntnis des Doppels zum Pop – Streicher
und Synthesizer in himmlischer Umarmung. Ein Song wie ein Tagtraum. Im Gras. Am
Flussufer. Für immer.
Future Islands –
Sun In The Morning:
„Ohne Sonne kein Leben“, das klang vermutlich immer schon schlüssig. Dass sich
die Erde um den ewigen Feuerball bewegt (und nicht der ewige Feuerball um die
Erde), wäre über eine frühere Erfindung der Popmusik aber wesentlich schneller
verständlich gewesen. Die dort erfolgte Gleichsetzung der Geliebten mit einer Sonne,
um die sich alles dreht – Und für die wir uns ja bitteschön alle verdrehen!
Jederzeit wieder! Gerne gleich jetzt! – dominiert nicht unbedingt wenige Songs.
Steinzeitlich von Trommeln bestimmte, sogar noch vor dem geozentrischen
Weltbild hängengebliebene männliche Grunzspielarten im Metal, bei denen ewige
Dunkelheit das höchste Gut ist und die Sonne maximal eine auch von PeterLicht
besungene „gelbe Sau“, jetzt einmal ausgelassen. Wenn Samuel T. Herring, Sänger
der US-Band Future Islands, als Sonnenanbeter für uns vor ihr auf die Knie
geht, ist jedenfalls alles eindeutig: Sowohl Kopernikus als auch das Problem
der Kirche mit den Frauen. Und immer, immer wieder geht die Sonne auf. Schon in
der Früh zum Beispiel, beim gemeinsamen Kaffeetrinken.
Gustav – Verlass
die Stadt:
„O schüttle ab den schweren Traum / und die lange Winterruhʼ; / es wagt es der
alte Apfelbaum / Herze, wag’s auch du!“ – nicht nur die Gentrifizierung in
Richtung der Außenbezirke könnte ein Argument dafür sein, sich anstelle einer
Eigentumswohnung in der Stadt ein Häuschen im „strukturschwächeren“ Raum
zuzulegen, wo Fuchs und Hase sich wesentlich später Gute Nacht sagen, als der
örtliche „Nah & Frisch“ offen hat. Am frühen Abend werden die Gehsteige
hochgeklappt und außer einer erzwungenen Abkehr von unserer „Hektomatikwelt“
bleibt einem nur eventuell noch etwas Gartenarbeit. Die eingangs zitierten
Verse aus der Feder Theodor Fontanes fanden popkulturell selten so deutlich Widerhall
wie 2006 bei Blumfeld: „Der Apfelmann in seinem Garten / hat keine Zeit sich
auszuruhʼn. / Er sieht die Apfelbäume warten / und weiß, es gibt noch viel zu
tun.“ Bei Eva Jantschitsch alias Gustav wiederum schickt sich der städtische
Moloch an, bald alles in Schutt und Asche zu legen, und die Folgen für uns sind
ebenso eindeutig wie die Konsequenzen: „Die Seele brennt / genau wie all der
Orte Straßen. / Es ist Zeit diese Stadt zu verlassen.“ Zwischen den
Salathäupteln wächst Unkraut. Und bitte, der Buchsbaum gehört auch wieder
geschnitten!
Beach House –
Walk In The Park: Parks
sind eine tolle Erfindung. Sie verschönern die Städte, denen sie auch in Sachen
Sauerstoffbildung aushelfen, und bieten Büromenschen in der Mittagspause eine willkommene
optische Abwechslung zu Betonwand, Bildschirm und Espressomaschine – nicht
zuletzt mit dem studentischen Jungvolk im Hintergrund, das sich, auf der Wiese
lümmelnd, bereits dem Dosenbier widmet. Those were the days! Historisch darf
man an Ursprünge der Gartenkunst in der Antike ebenso denken wie an das
Prä-Schloss-Geprotze französischer Sonnenkönige oder die Ankunft des
öffentlichen Gartens in den Niederungen des Volks im 18. Jahrhundert. In Amerika
gibt es Parks, die sehr unnatürlich sind, und in die der alte Walt Disney
Kinder mit freilaufenden Mickey Mäusen zu locken gedenkt.
Udo
Jürgens hatte eine Gaby im Park warten, um im gehobenen Schlagerfach über
Seitensprünge zu reflektieren. Lou Reed erlebte seinen „Perfect Day“ auf der
Liegewiese (ohne Dosenbier, mit Sangria). Hinter dem „Parklife“ von Blur mochte
sich auch ein Sinnbild für das Lotterleben verstecken. In keinem Genre dürfte
der Volksgarten aber besser aufgehoben sein als im Dream Pop, der Mußestunden
quer durch die Jahreszeiten fokussiert und im Fall von Beach House zwar
inhaltlich ohne Happy End daherkommt. Als im Sound mindestens angenehme
Einladung zum Schwelgen in Gedanken wird der Seele hier aber hocherfolgreich
geschmeichelt.
(Wiener Zeitung, 4./5.4.2015)
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